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Meinung: Die Wahrheit liegt auf dem Sandplatz

Pascale Hugues, Le Point

Das viele Boulespielen hat ihn umgebracht!“, so hieß es im Familienkreis über meinen Großonkel Julien. Er war Bürgermeister eines winzigen Dorfes, in Südfrankreich auf einem Gipfel zwischen der Durance und den ersten Rundungen der Alpen gelegen. Seiner festen Überzeugung nach gehörte es zu seinen Pflichten als Bürgermeister, sich an jeder Partie Boule zu beteiligen, die auf seinem Herrschaftsgebiet gespielt wurde. Nach jedem Wurf klopfte Onkel Julien Germain, Louis und Félicien auf die Schulter und nahm einen ordentlichen Schluck Pastis. Auf diese Art pflegte er den Kontakt zu seinen 456 Untertanen, eine Vision der „partizipativen Demokratie“, wie sie heute en vogue ist. Nach Spielende ging Onkel Julien mit dem Bewusstsein nach Hause, dass er seine Pflicht erfüllt hatte. Tante Mireille hatte eine Drosselpastete und gefüllte Täubchen vorbereitet, um die sportlichen Großtaten ihres Helden zu feiern.

Mit ihren feinen dunkelroten Äderchen erinnerte Onkel Juliens enorme Nase an eine Vase aus chinesischem Porzellan. Seine Hüften waren ein wenig launenhaft, und seinen monumentalen Bauch trug er stolz vor sich her. Im Übrigen erklärte er mit einer gewissen Genugtuung, man brauche für das Boulespiel keine Tarzanmuskeln. Onkel Juliens Stimme war sonnig, seine Gesundheit eisern.

Mitten im Herzen von Berlin habe ich Onkel Juliens Klone gefunden. Sogar der herbe Geruch der Platanen war da und der von fiebrigen Füßen aufgewirbelte Staub, und fast könnte ich schwören, dass ich bei Einbruch der Nacht das Zirpen der Grillen gehört habe. Unter dem Goldenen Hirschen, der am Eingang des Volksparks röhrt, findet sich ein kleines Universum à la Pagnol. Die Berliner spielen Boule. Sie kommen abends vom Büro direkt hierher.

Es ist warm geworden. Berlin gibt sich dem verführerischen Rhythmus der Sommerabende hin. Gut, Karl-Heinz, Henning und Gerd haben nicht viel Ähnlichkeit mit Germain, Louis und Félicien. Kein Strohhut, keine Espadrilles, keine Hosenträger, keine Kippe im Mundwinkel. Einer trägt eine paramilitärische Hose und klobige Sportschuhe, ein anderer eine blumige Tätowierung auf dem Bizeps, an den Füßen Flipflops. Und offensichtlich verbietet der deutsche Bouleverband Alkohol während des Spiels.

Ich frage mich allerdings, ob mein Großonkel Julien sich so stark für die Republik eingesetzt hätte, wenn er nach jedem Wurf einen Schluck lauwarmes Mineralwasser hätte trinken müssen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob eine Tante Bärbel in ihrer Berliner Küche ungeduldig auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, um ihn mit Schweinebuletten und Hackepeterstullen zu verwöhnen.

Vorbei sind die gesegneten Zeiten, als die Männer unter sich waren. Einer der großen Erfolge der Frauenbewegung ist die Gleichberechtigung auf dem Terrain des Boulespiels. Unter dem Goldenen Hirschen sind auch Frauen, an der Seite ihrer Männer. Eine trägt goldene Ballerinas und ein T-Shirt mit der Aufschrift: „The aim of design is to define space“. Eine Botschaft, die Onkel Juliens Freunde wohl eher verwirrt hätte.

„Noch ist kein Meister vom Himmel gefallen!“, sagt einer der Spieler, als er seine Kugel mit einem Frotteetuch abwischt. „Besser als Fernsehgucken, wat soll man machen!“, erwidert ein anderer. Boule gilt als ruhiger Zeitvertreib für Rentner. Den Spielern im Volkspark missfällt es sehr, dass man sie für Schwächlinge halten könnte. Sie rühmen die „Mentalstärke“, die Konzentrationsfähigkeit und die Geschicklichkeit, ohne die man es nicht zum Champion bringen kann. Immerhin ist Boule wesentlich dynamischer als Gartenschach am Strandbad Wannsee oder Pokerpartien, zu denen man sich vor den Kreuzberger türkischen Kneipen an Tischen niederlässt! „Boule“, so empört sich der französische Verband auf seiner Homepage, „ist ein echter Sport. Nur mit sehr viel Training erreicht man ein hohes Niveau. Es ist ein populärer geselliger Sport, unschädlich für die Gesundheit, den man in jedem Alter und ohne kostspieliges Zubehör ausüben kann.“ Boule hat einen Siegeszug um die Welt angetreten. Sogar in Berlin spielt man auf Französisch: „Komm her, meene kleene cochonnet!“ „Icke bin det tireur, wah?“ In 69 Ländern gibt es Verbände. Onkel Juliens leben in Vietnam, Algerien, Thailand – und unter unserem Goldenen Hirschen!

Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke.

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