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Meinung: Die zweite Emanzipation

Angela Merkel wagt sich an die Fundamente ihrer Partei

A ngela Merkel hat sich mal wieder getraut. Sie hat die zweite Emanzipation der CDU eingeleitet. Die erste war die vom Dezember 1999, als sie ihre Partei zur Überwindung des Übervaters Helmut Kohl aufgerufen hat. Das war mutig und hat einen innerparteilichen Preis gefordert. Als Parteivorsitzende musste Merkel so ausbalanciert auftreten, dass ihr alsbald der Ruf der Positionslosigkeit anhaftete. Jetzt hat sie die politische Emanzipation von der CDU der alten Sozialstaats-Bundesrepublik eingeleitet. Das ist wagemutig und wenn es einen Preis kostet, dann bei den Wählern.

Merkels entschiedenes Ja zu den Vorschlägen der Herzog-Kommission wird die politische Landschaft viel stärker aufwirbeln, als am beginnenden innerparteilichen Streit erkennbar ist. In der CDU ist auf der Stelle eine übersichtliche Schlachtordnung entstanden, die – für die Parteichefin durchaus nützlich – unterstreicht, dass es hier in der Hauptsache um Alt gegen Neu geht. Wenn Heiner Geißler und Norbert Blüm die bekanntesten Köpfe bleiben, die in diesen Vorschlägen „ihre“ CDU nicht wiedererkennen, werden Angela Merkel und Friedrich Merz als Duo der neuen Köpfe es relativ leicht haben. Die Welt, die Zeiten und mit ihnen die CDU müssen sich – bei aller Wertschätzung für die Verdienste der Alten – eben ändern. Mit dieser Botschaft hat Merkel die erste Regionalkonferenz im Westen der Republik für sich eingenommen, und auf diese Weise könnte sie ihren Durchmarsch durch die Parteigremien bestreiten.

Wären da nicht solche wie Edmund Stoiber und Horst Seehofer. Die beiden meinen, was sie sagen: dass nämlich die CSU eine Volkspartei sei, die auf soziale Balance Wert legen muss. Sie repräsentieren damit in der Union mehr als nur die bayerische CSU, die als Partei absoluter Mehrheiten ganz besonders mit den kleinen Leuten fühlt. Die Union ist, wie FDP-Chef Guido Westerwelle beklagt, die zweite sozialdemokratische Kraft in Deutschland. 16 Jahre hat die CDU regiert; in dieser Zeit gab es in anderen Ländern den Thatcherismus oder die Reaganomics. Helmut Kohl führte unbeeindruckt den rheinischen Kapitalismus weiter, sozial pfleglich und mit Dauererfolg bei den Wählern. Dieses Verständnis von CDU ist mit ihm nicht untergegangen; es lebt nicht nur in der CSU, sondern auch in den CDU-regierten Ländern. Bei den Ministerpräsidenten von Thüringen, Baden–Württemberg oder des Saarlands werden die Augen nicht so glänzen wie bei Friedrich Merz, wenn sie die Vorschläge zur Kranken- oder Pflegeversicherung vertreten müssen.

Angela Merkel hat die CDU aus der Deckung genommen, in der nicht nur Edmund Stoiber gern geblieben wäre. Bisher war es allein der regierenden anderen Volkspartei, der SPD, überlassen, unangenehme Antworten auf die veränderten Zeiten zu geben. Nicht ihre Vorschläge sind der SPD dabei zum größten Problem geworden, sondern der Eindruck, dass sie dabei ihr Wertegefüge verkauft. Ist das gerecht? lautet die vorwurfsvolle Frage an die SPD. Ist das christlich? wird künftig die Union gefragt. Das ist gut für das Land, weil es sich damit endlich ehrlich macht. Denn mit den Mitteln des alten Sozialstaats kann heute weder die eine noch die andere Frage beantwortet werden. Für die Bürger wird die unvermeidliche Debatte um die geistigen Grundlagen und Werte der großen Parteien nachvollziehbarer, wenn sich die eine dabei nicht hinter der anderen versteckt. Wie sie aus diesem Prozess hervorgehen, ob es Volksparteien überhaupt noch geben wird, das allerdings ist offen.

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