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Mitbestimmen für jedermann? Ganz so gewichtig ist die Meinung des Bürgers meist doch nicht.

© dapd

Direkte Demokratie: Heute im Sonderangebot: Direkte Demokratie

Politiker fragen immer öfter den Bürger um seine Meinung. Doch beim zweiten Hinsehen muss er feststellen, dass es mit dem vermeintlichen Interesse an seiner Person nicht weit her ist.

Von Anna Sauerbrey

Der Bürger ist neuerdings ein gefragter Mann. Ende November wird die Baden-Württembergische Landesregierung ihn nach seiner Meinung zu einem milliardenschweren Bahnhofsprojekt befragen. Der grüne Kreuzberger Bürgermeister Franz Schulz möchte ihn über das Schicksal der A 100 befinden lassen. Und Finanzminister Wolfgang Schäuble will, dass er bald einen europäischen Präsidenten wählt und die europäische Einigung vollstreckt. Das ist eine ganze Menge Verantwortung und der Bürger könnte sich geehrt fühlen, dass ihm endlich mal etwas zugetraut wird. Doch beim zweiten Hinsehen muss er feststellen, dass das vermeintliche Interesse an seiner Person in etwa so echt ist wie die freundliche Frage nach dem Befinden von Gattin und Nachwuchs, die zum Repertoire jedes Direktvertriebmitarbeiters gehört. Der hat im Kommunikationstraining gelernt, dass er mit Fragen nach dem Befinden die Verkaufszahlen seiner Zimmerspringbrunnen erhöht. Und auch die Politiker glauben, dass sie sich mithilfe von Bürgerbefragungen ungeliebter Lagerbestände entledigen können. Im Sonderangebot zur Zeit verfügbar: Einigungen über Bauprojekte und eine echte Demokratisierung der EU.

Dennoch ist es gut, wenn mehr direkte Beteiligung auf die Agenda rückt, denn die alten Formen der Bürgereinbindung stecken in der Krise, nicht erst seit gestern. Die Parteien verlieren ohne Ausnahme an Mitgliedern und überaltern. Die Wahlbeteiligung sinkt. Von einer breiten Entpolitisierung Deutschlands mögen die meisten Wissenschaftler dennoch nicht sprechen. Denn es gibt eine Gegenbewegung.

Die Jungen sind keineswegs unpolitisch. Sie treten nur nicht mehr in Parteien ein, sondern in Nicht-Regierungsorganisationen. Sie fahren nach Heiligendamm oder ins Wendland. Sie unterschreiben E-Petitionen gegen die Vorratsdatenspeicherung oder legen die Webseiten derer lahm, die Wikileaks angreifen. Auch die Älteren sind (wieder) aktiv. Sie wollen ihre Gärten und Kinder schützen und verabreden sich auf Facebook zu Protesten gegen Flugrouten, Stromtrassen, Bahnhöfe und Autobahnen. Politik auf einen Klick. Oder als schrilles Event.

Nun könnte man die Dagegen-Haltung vieler der neuen Bürgerbewegungen geißeln. Ihnen vorhalten, dass Alternativvorschläge häufig fehlen. Ihnen sagen, dass es immer noch die mühselige Arbeit von Partei- und Bundestagsgremien ist, die nach vielen schmerzhaften Kompromissen zu Gesetzesvorlagen führt, die im besten Fall dem Gemeinwohl dienen. Oder man könnte versuchen, die vielen neuen Formen der Beteiligung mit der alten Parteiendemokratie zu vereinbaren, ohne jedem, der sich in die Nähe eines Ortsverbandes wagt, gleich einen Mitgliedsantrag unter die Nase zu halten. Ausgerechnet die alte Tante SPD scheint das verstanden zu haben. Und ausgerechnet die Grünen, die mal ein Ausrufezeichen hinter „basisdemokratisch“ machten, nutzen sie nun nicht, um Verantwortung zu generieren, sondern um Verantwortung abzuschieben.

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