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Meinung: Doppelte Mehrheit, Stimme der Bürger

Wer die europäische Verfassung will, sollte jetzt nicht draufsatteln / Von Hans-Dietrich Genscher

EURatspräsident Berlusconi hat wissen lassen, dass er beim EU-Gipfeltreffen Ende dieser Woche nicht um jeden Preis abschließen wolle. Das ist eine Binsenwahrheit, wenn dahinter nicht die Absicht steht, ein Scheitern achselzuckend in Kauf zu nehmen. Im Übrigen, wer davon spricht, „es wäre ein schwerer Fehler, um jeden Preis abzuschließen“, müsste hinzufügen, es wäre ein ebenso schwerer Fehler, Verhandlungen um jeden Preis scheitern zu lassen. Zugegeben: Der Europäische Rat steht bei der Entscheidung über den Verfassungsentwurf vor einer der am weitesten gehenden Abstimmungen in der Geschichte der EU.

Natürlich wird stets bis zuletzt gepokert. Neu ist, dass die italienische Präsidentschaft, die von Amts wegen verpflichtet wäre, alles für die Einigung Notwendige zu tun, so offen über die Möglichkeit des Scheiterns spricht. Man kann sich zum Beispiel an solche Erklärungen unmittelbar vor der Maastricht-Konferenz nicht erinnern. Auch deshalb wurde sie zum Erfolg. Neu ist auch, solches aus italienischem Mund zu hören. Immerhin gehört Italien zu den sechs Gründerstaaten der EU. Es hat seitdem eine lange und vorbildliche Tradition pro-europäischen Verhaltens. Dessen sollte sich Ministerpräsident Berlusconi bewusst sein.

Dabei ist die Sache, für die er zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler am Sonntag in Berlin eingetreten ist, bedeutsam. Das Anliegen der so genannten doppelten Mehrheit ist durchaus legitim. Es bedeutet, dass neben den Stimmen der Staaten im Rat auch die Bevölkerungszahl Gewicht haben soll. Die Gegner dieser Regelung sollten bedenken, dass im Europäischen Parlament zwar die Mehrheit der Abgeordneten entscheidet, diese Mehrheit aber nicht identisch ist mit der Mehrheit der europäischen Bürger, die sie gewählt haben.

Denn das Gewicht jeder einzelnen Bürgerstimme ist umso größer, je kleiner das Land ist, in dem dieser Bürger lebt. Die Frage, welcher Prozentsatz bei der doppelten Mehrheit für das Quorum einer Sperrminorität gefordert wird, eröffnet Kompromissmargen für eine Einigung.

Der Konvent hat ein beachtliches Verfassungswerk in eindrucksvoll kurzer Zeit vorgelegt. Jeder, der zur Gipfelkonferenz reist, sollte sich bewusst sein, dass er bei einem Scheitern der Konferenz eine schwere Verantwortung für die Zukunft Europas auf sich nimmt. Gerade jetzt ist ein handlungsfähiges Europa mehr denn je gefordert – außen- und sicherheitspolitisch, wo die deutsch-französisch-britische Initiative für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik einen beachtlichen Schritt nach vorn ermöglicht.

Auch im Bereich der Handelspolitik muss Europa seine globale Verantwortung stärker wahrnehmen. Die Position Europas in Cancún war kein Ruhmesblatt der europäischen Geschichte und die Indifferenz in der Nahost-Frage ist es auch nicht. Wo bleibt das Wort der EU zu der Genfer Friedensinitiative? Der amerikanische Präsident zum Beispiel hat sich positiv dazu geäußert.

Spannungen und offene Fragen wenige Tage vor der Gipfelkonferenz sind nichts Neues in der Geschichte der EU. Neu aber ist die distanzierte Haltung der Präsidentschaft. Wünschen möchte man sich auch, dass Deutschland sich stärker seiner klassischen Rolle widmet, in der Vorbereitung entscheidender Weggabelungen auf Kompromissbereitschaft und Einigung hinzuwirken – am besten gemeinsam mit Frankreich.

Europäische Staatskunst hat es vermocht, den westlichen Teil Europas zu einigen und die Ost-West-Spaltung friedlich zu überwinden. Heute wird von ihr verlangt, die Einheit Europas zu vollenden und die EU handlungsfähiger zu machen, damit sie ihre Position in einer neuen Weltordnung, die in allen Teilen der Welt als gerecht empfunden werden kann, einzunehmen vermag. Wenn Europa wie jetzt vor einer historischen Weichenstellung steht, ist Deutschland besonders gefordert. Dazu gehören auch intensive bilaterale Kontakte zur Vorbereitung einer Einigung. Gefordert sind auch die deutschen Parteien mit ihren Möglichkeiten bei den Schwesterparteien in den anderen Mitgliedstaaten.

Die Parole für Deutschland in Regierung und Parlament muss sein: Nicht draufsatteln, sondern dem Konventsentwurf zur Annahme verhelfen!

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