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Meinung: Ehrlich, aber heimlich

Von Christoph von Marschall

Eine klare Mehrheit der Europaabgeordneten ist für Beitrittsgespräche mit der Türkei – in geheimer Abstimmung. Alle konnten ihrem Gewissen folgen, niemand musste Rücksicht nehmen, wie die Öffentlichkeit auf sein/ihr Ja oder Nein reagiert. Das spricht für ein ehrliches Stimmungsbild – das umso erstaunlicher ist, weil die Volksvertreter auf den ersten Blick viel türkeifreundlicher stimmten, als Europas Bürger empfinden. Die blicken laut Meinungsumfragen ziemlich skeptisch auf das neue Kapitel mit der Türkei.

Manche bei SPD und Grünen wollen die von der CDU erzwungene geheime Abstimmung als unlauter darstellen – und deuten die klare Mehrheit als Trotzreaktion. Dafür spricht wenig. Generell stimmt das Europaparlament seltener nach dem LinksrechtsSchema ab, als man das aus den nationalen Parlamenten kennt. Das gilt erst recht beim Thema Türkei. Österreicher und Franzosen sind da über die Parteigrenzen hinweg eher pessimistisch, Italiener und Spanier im Zweifel enthusiastisch und viele Skandinavier abwartend-skeptisch. Viel wahrscheinlicher als die These vom Trotz gegen die geheime Abstimmung ist, dass die lange und klare Liste von Bedingungen, an die das Parlament sein Ja knüpft, manchen Skeptikern die Zustimmung ermöglicht hat: Verweis auf die begrenzte Aufnahmefähigkeit der EU, an der die Integration der Türkei scheitern kann, Forderung nach Verbesserungen bei Menschenrechten, Minderheitenrechten für Kurden und nichtmuslimische Religionen, Anerkennung Zyperns, Abzug der türkischen Armee aus Nordzypern, Aufarbeitung des Völkermords an Armeniern …

Das Parlament hat sich also viel offensiver geäußert, als es die Staats- und Regierungschefs bisher taten. Die aber treffen die Entscheidung am Freitag beim Gipfel. Eine geheime Abstimmung der 25 müsste die Türkei fürchten. Einige hoffen, dass da jemand den Mut findet und der Türkei die Tür zur Aufnahme zuschlägt, worauf die EU eine privilegierte Partnerschaft anbieten könnte. Aber öffentlich mag kein Regierender den Spielverderber geben. So spricht alles dafür, dass die Staats- und Regierungschefs die Türkei zu Beitrittsgesprächen einladen – ganz offen, aber nicht unbedingt ehrlich. Und allenfalls etwas abgepuffert durch den Zusatz, dass die Verhandlungen (aus Rücksicht auf das französische Verfassungsreferendum) erst in der zweiten Hälfte 2005 beginnen und ergebnisoffen geführt werden.

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