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Meinung: Ein Geben und Nehmen

Von Gerd Appenzeller

Ob alle Politiker, die jetzt so entschieden gegen die Äußerung des Bundespräsidenten über die unterschiedlichen Lebensverhältnisse in Ost und West protestierten, das Interview auch gelesen haben? Man muss seine Zweifel haben. Ganz offensichtlich hat sich die vorab übermittelte Nachrichtenfassung so auf wenige, vermeintlich skandalträchtige Zeilen konzentriert, dass Horst Köhler jetzt im übertragenden Sinne Prügel dafür bekommt, dass er Wahrheiten ungeschminkt ausgesprochen hat. Dass wir mit ihm kein Staatsoberhaupt bekommen würden, dessen Ausdrucksweise im über Jahrzehnte erprobten Politsprech bis zur Inhaltslosigkeit abgeschliffen ist, war ja schon länger begkannt.

Wo also ist der Skandal? Köhler hat nüchtern festgestellt, dass es in Deutschland große Unterschiede in den Lebensverhältnissen gibt und das man dies nur durch massive Staatssubventionen verändern könne. Er hat in diesem Zusammenhang nicht, das mag man ihm vorhalten, daran erinnert, dass Artikel 106 des Grundgesetzes ein Verschieben von Steuergeldern zur Erzielung einheitlicher Lebensverhältnisse geradezu vorschreibt – das ist ja die Rechtsbasis des Länderfinanzausgleichs. Aber wird Köhlers Feststellung deswegen unwahr? Nein. Zur Erinnerung: Bayern, das heute gerne so tut, als würde es durch die Misswirtschaft in den sozialdemokratisch regierten jungen Bundesländern finanziell ausgesaugt, hat 30 Jahre lang als Nehmerland von diesem Finanzausgleich profitiert. Das ist also der Rahmen, in dem man eine Anpassung der Lebensverhältnisse erwarten kann. Bis dahin werden Menschen zur Arbeit reisen müssen, da die Arbeit nicht zu ihnen kommt. Genau dies haben Arbeitsuchende in Ostfriesland, aber auch im Süden der Republik über Jahrzehnte hinweg tun müssen.

Was Köhler sich allerdings noch abgewöhnen muss – auch das zeigt das komplette Interview – ist sein Hang zu einer gewissen burschikosen Banalität. Der Satz etwa „Die Zukunft ist eben ein offenes Wagnis“ ist zwar richtig, aber nach zehn Jahren Arbeitslosigkeit wird er wohl eher als Ohrfeige empfunden werden.

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