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Meinung: „Ein Kartell des Schweigens“

Sein Markenzeichen ist die Mäßigung. Exzesse verabscheute Giorgio Napolitano schon, als er 1942 als Student einer antifaschistischen Widerstandsgruppe beitrat.

Sein Markenzeichen ist die Mäßigung. Exzesse verabscheute Giorgio Napolitano schon, als er 1942 als Student einer antifaschistischen Widerstandsgruppe beitrat. Auch als Kommunist waren ihm verbale Kraftakte stets fremd. Wegen seines britischen Understatements und seiner höflichen Umgangsformen trägt der italienische Staatspräsident den Beinamen „roter Lord“.

Doch vor wenigen Tagen ließ sich der 81-Jährige zu einer Verbalattacke hinreißen, die eine ungewohnt heftige diplomatische Kontroverse zwischen Rom und Zagreb auslöste. Am 60. Jahrestag des Pariser Vertrags, der die Abtretung Istriens und Dalmatiens von Italien besiegelte, legte Napolitano den Finger in eine nie verheilte Wunde: das Massaker in den „Foibe“. In den Karsthöhlen des Küstengebiets wurden zwischen 1943 und 1945 alte Rechnungen beglichen. Titos Partisanen nahmen blutige Rache für die Gräuel der faschistischen Besatzer. Doch in den Foiben verschwanden nicht nur italienische Faschisten. Im dreisprachigen Grenzgebiet nutzten Italiener, Slowenen und Kroaten die Wirren des Krieges auch zur Begleichung persönlicher Feindschaften und ethnischer Rivalitäten.

Die beharrliche Ignorierung dieser „Jahrhundertbarbarei“ durch seine eigene Partei wertete Napolitano als „politisch-ideologische Blindheit“. Ein „Kartell des Schweigens“ habe die Aufarbeitung der Verbrechen verhindert. Gleichzeitig klagte er über „blutrünstigen slawischen Hass“, „ethnische Säuberungen“ und „annexionistische Tendenzen“. Sein kroatischer Kollege Stipe Mesic konterte umgehend. Die Äußerungen Napolitanos seien „rassistisch und revanchistisch“ und der „Versuch einer Geschichtsrevision“.

Hitzige Diskussionen in beiden Ländern waren die Folge. Im italienischen Fernsehen beschimpften sich Historiker gegenseitig als Ignoranten. Einige bezifferten die Zahl der Foiben-Opfer auf 400, andere auf 15 000. Zagreb warf Rom mangelnde Wiedergutmachung für faschistische Untaten vor, Italien forderte Entschädigung für die 350 000 aus Istrien und Dalmatien vertriebenen Landsleute. Dass Mesic seine Worte auf Druck Brüssels zurücknahm, um Kroatiens EU-Beitritt nicht zu gefährden, konnte die Kontroverse kaum entschärfen. Am Wochenende wurde Napolitano auch vom slowenischen Präsidenten gerügt. Den Wortlaut seines Protestschreibens mochte Janez Drnovsek zur Vermeidung weiteren Schadens lieber nicht preisgeben.

Gerhard Mumelter

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