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Ein Lob aufs Singen: Hört der Engel helle Lieder

... und stimmt mit ein: Das gemeinschaftliche Singen ist aus dem Alltag fast verdrängt. Nur zu Weihnachten lebt es auf. Eine Ermunterung.

Und, wo trauen Sie sich?

Morgens unter der Dusche, allein mit dem Apfelshampoo?

Tagsüber im Auto, allein mit dem Radiomoderator?

Alle halbe Jahre mal beim Rockkonzert oder Fußballspiel, inmitten von Unbekannten?

Vielleicht an diesem Abend. Der Heilige Abend dürfte der Abend sein, an dem in Deutschland statistisch am meisten gesungen wird, an dem auch Menschen, die sonst nur ihrem Apfelshampoo etwas vorträllern, in Gesellschaft ein Lied anstimmen. Sei es unterm Weihnachtsbaum oder beim Krippenspiel, mit eigener Klavierbegleitung oder mit Aretha Franklins Christmas Songs im Hintergrund, mit Familie, Freunden, Kirchen- oder Fernsehgemeinde: Weihnachten ist auch deswegen ein besonderes Fest, weil ein bisschen Gesang noch immer dazugehört.

Welches andere Fest bietet überhaupt einen gemeinsamen Schatz an Liedern? Jeder, der in diesem Land sozialisiert wurde, kennt mindestens zehn, zwanzig oder mehr Weihnachtslieder, traditionell europäische, christliche wie „Stille Nacht, Heilige Nacht“ oder „Es ist ein Ros entsprungen“ und amerikanische, säkulare Lieder wie „Jingle Bells“ oder „White Christmas“. Beste Voraussetzungen also, um spontan zusammen zu singen. Hört der Engel helle Lieder – und singt mit ihnen! Gloria in excelsis deo! Deutschland, an diesem Abend: ein Land der Lieder. Vielstimmiger Klang aus Millionen Kehlen erhebt sich in den Himmel und stimmt denjenigen oder diejenige, die dort oben über uns wacht, gnädig, hoffentlich.

Gesang ist in der Geschichte der Menschheit zentral

Aber da fängt das Problem schon an. Wer kennt die Texte? Oma und Opa wissen sie vielleicht noch auswendig, die anderen brauchen zumindest für die zweite und dritte Strophe Textblätter. Singen muss organisiert werden. Jemand muss sich in Kirche, Familie oder Chor die Mühe machen, Lieder auszuwählen, Texte zu kopieren und auszuteilen, damit jeder ein Blatt vor der Nase hat. Singen ohne Blatt vor der Nase ist Profis vorbehalten. Womöglich gibt es schon vorab erbitterten Streit, weil gerade Weihnachtslieder heftige Reaktionen auslösen: „Stille Nacht“ ist so schön – nein, kitschig! „O Tannenbaum“, o wie so schön! Nein, kindlich! „White Christmas“, ach so schön! Nein, Kaufhausmusik!

Aber nehmen wir mal an, die Familien, Grüppchen, Gemeinden einigen sich, sie halten ihre Texte in den Händen, einer stimmt auf dem Klavier oder der Gitarre ein Lied an, die erste Befangenheit ist weggeräuspert, eine aus Kindheitstagen bekannte, auf Weihnachtsmärkten fast zu Tode gedudelte Melodie schwingt sich empor: Dann kann es passieren, dass er eintritt, der magische Moment des gemeinsamen Singens. Gerötete Wangen. Ein Tränchen im Auge. Die Kehle durchblutet, das Herz warm. Plötzlich kommt Lockerheit auf, Schwung, ja, Unersättlichkeit. Jetzt aufhören? Nicht doch. Wie wäre es noch mit „Macht hoch die Tür“ oder „Leise rieselt der Schnee“? Die Melodien, alle bekannt. Und die Texte kann man noch spontan googeln. Let’s sing!

Die Sirenen sangen Odysseus fast um den Verstand

Weihnachten, Fest der Lieder: Das zeigt vor allem, welch kümmerliche Rolle das gemeinsame Singen im Rest des Jahres einnimmt. Es gibt praktisch keine anderen Anlässe dafür als die alljährliche Feier der Geburt Christi. Der moderne, säkulare Mensch singt nicht einfach so – allenfalls unter der Dusche, im Auto, im Stadion. Er, und oft auch sie, ist seiner, ihrer Gesangsstimme entfremdet, empfindet den freien Gesang als unnötig, ja peinlich. Zwar trägt er Stöpsel in den Ohren, aus denen permanent Musik, meist Gesang, ins Hirn dringt. Aber dort, im Kopfhörer und Kopf des Hörers, bleibt der Profi-Song auch stecken. Mitsingen? Hm. Allenfalls verhakt sich mal ein Refrain als Ohrwurm im Gehirn und entwischt den Lippen des Nicht-Sängers unwillentlich, beim Kochen oder Radfahren.

Dabei ist der Gesang in der Geschichte der Menschheit zentral. Es gibt keine Gesellschaft, keine Kultur ohne Gesang – auch wenn Isis und Taliban ihn verbieten, als wollten sie den alten deutschen Poesiealbums-Spruch bestätigen, dem zufolge böse Menschen keine Lieder haben. In Frühzeiten haben Hirten mit Liedern ihre Tiere beisammengehalten, Zauberrituale und Geisterbeschwörungen gingen mit Gesängen einher, Mythen und Legenden erzählen von der Kraft des Gesanges: ob es die Sirenen sind, die Odysseus fast um den Verstand brachten, oder Orpheus, der mit seinem Gesang Götter, Menschen und sogar Steine betörte. „Die wilden Tiere scharten sich friedlich um ihn, und selbst die Felsen weinten angesichts seines schönen Gesangs.“

Über viele Jahrhunderte haben Menschen in typischen Situationen gesungen: auf dem Feld, bei der Arbeit, bei Dorffesten, Hochzeiten, in der Kirche. Es gab Trinklieder, Jagdlieder, Wanderlieder, Studentenlieder, natürlich auch Marschlieder und Kampfgesänge. „Das Goldene Buch der Lieder“, um 1900 erschienen, verzeichnet fast tausend volkstümliche Lieder, darunter auch Schlager aus Oper und Operette, die durchaus aktiv und gemeinsam gesungen wurden. Die alte Generation in Deutschland kennt es aus der Jugend, das gemeinsame Singen, das die Nazis gepflegt und in den Augen vieler diskreditiert haben. Es gibt eben doch böse Menschen, die Lieder haben! Auch in der DDR wurde die „Singebewegung“ der sechziger Jahre politisch instrumentalisiert, dienten Pionier- und FDJ-Lieder propagandandistischen Zwecken. Aber das sollte kein Grund sein, das gemeinsame Singen mit seiner jahrtausendealten Tradition gering zu schätzen.

Im Westen sangen Friedensbewegte in den Siebzigern mit der Gitarre am Lagerfeuer. „Bella Ciao“, „Sag mir, wo die Blumen sind“, „We shall overcome“: In den Liederfibeln der Reihe „Student für Europa“ wurde das gemeinschaftliche Singen moderner, politischer, internationaler, eine bunte Mischung von dem „House in New Orleans“ bis zu den Affen, die durch den Wald rasen. Viele Songs sind auch heute noch im Ohr.

Aber welche Gelegenheiten gibt es, sie zu singen? Wie viele Feiern haben Sie besucht, von Advents- und Weihnachtsfeiern abgesehen, auf denen gemeinsam gesungen wurde? Wie oft singen Sie im Betrieb oder Freundeskreis ein anderes Lied als das ewige, idiotentaugliche „Happy Birthday“? Wie oft kommt es vor, dass man beim Spazierengehen aus einem offenen Fenster eine Frau oder gar einen Mann singen hört, einfach so, zum Spaß?

Verglichen mit der Bedeutung des Singens in früheren Zeiten und anderen Kulturen haben wir eine erbärmliche Schwundstufe erreicht: Singen hat im allgemeinen, täglichen, gesellschaftlichen Leben keinen Platz. Ein Mensch kann, sobald er Kita-Singspiele, Grundschul-Musikunterricht und womöglich Jugend-Karaoke hinter sich gebracht hat, wunderbar durchs Leben kommen, ohne je ein Lied anzustimmen. „Ich kann nicht singen“, sagt ein solcher Mensch dann, schweigt womöglich sogar zu Weihnachten und wird damit auf großes Verständnis stoßen. Früher hätte man vielleicht von ihm erwartet, dass er zur Jagd, zum Schützenfest, in der Kirche, auf dem Feld ein paar passende Melodien und Texte beherrscht. Heute wird stimmlich nur noch die Indifferenzlage abgefragt, jene mittlere Stimmlage, in der sich die meisten vernünftigen sprachlichen Äußerungen abspielen. „Vorsingen“ ist zum Synonym für ein Bewerbungsgespräch geworden: Ein Bewerber, der vorsingt, ist exponiert, fürchtet Fehler, wird beurteilt und beäugt – eine unangenehme Situation.

Gesang aus der Konserve ist überall um uns herum, aktives Singen ist selten: Das ist die Wahrheit, aber Gott sei Dank nur die halbe. Denn in dem gleichen Maße, wie der Gesang aus dem Alltag verschwindet, boomt er in besonderen Räumen, zu besonderen Uhrzeiten, klar umgrenzt. Immer mehr Menschen singen in Chören: Der Deutsche Chorverband vertritt nach eigenen Angaben rund eine Million Sänger, die in 20 000 Chören organisiert sind, der Berliner Chorverband listet für jeden Bezirk zwischen zehn und 40 Chöre auf, und darin sind viele private oder betriebliche Gesangsgruppen gar nicht erfasst. Singkreise, Liedertafeln, Kirchenchöre, Frauen- oder Männerchöre, Kinder-, Gospel- Rundfunk-, Musikschul-, Betriebschöre, sogar der Tagesspiegel hat einen Chor: Wer in Berlin singen möchte, ob Weihnachtsoratorium, Beethovens Neunte, Swing, Pop oder Volksmusik, der findet etwas Passendes, singt einmal wöchentlich von 18 bis 20 Uhr oder beim Chor-Wochenende, Workshop, Chortreffen. Es gibt sogar einen eigenen Chor für diejenigen, die von sich behaupten, hoffnungslos unbegabt zu sein: den „Ich kann nicht singen“-Chor von Michael Betzner- Brandt, der sich einmal im Monat in der Urania trifft. Auf Festivals wie dem „Chor Open Stage Festival“, der „Langen Nacht der Chöre“ oder A-cappella-Festivals kann man ganz unterschiedliche, quicklebendige Formationen hören.

"Mamama“ oder „milanomilano“

Das gemeinschaftliche Singen, das lange Zeit eher altbacken in Kirchenchören daherkam, ist wieder modern. Sehr viele Menschen – zu zwei Dritteln sind es Frauen – erleben seine segensreichen Wirkungen, die die Wissenschaft nachweisen kann: Die Atmung vertieft sich, Glückshormone werden ausgeschüttet, die Immunabwehr gestärkt. Forscher der Universität Göteborg haben erst vor kurzem festgestellt, dass das gemeinsame Singen nicht nur einen positiven Effekt auf die Psyche und das Nervensystem hat, sondern auch auf das Herz und den Blutdruck – ähnlich wie Yoga.

Beim Einsingen, mit Atem-, Körperübungen und Stimmbildung auf „mamama“ oder „milanomilano“, wird erlebbar, wie Stimme, Körper und Seele zusammenhängen. Angefangen mit der Körperhaltung über den Atem – „die Lebensquelle der Stimme“ nennt ihn der Sänger Heinrich Egenolf – bis hin zu jenem komplizierten Zusammenspiel der Muskeln, das einen satten, kräftigen, warmen, volltönenden Klang ermöglicht, vom Zwerchfell über den Brustkorb bis zum Kehlkopf und der Stellung der Artikulationsorgane.

Wer singt, hört und spürt sich selbst, erlebt die eigene „Stimmung“ körperlich, wird sich seines „Gestimmtseins“ bewusst, begibt sich auf eine Reise zu sich selbst und entdeckt womöglich Erstaunliches. „Es ist viel mehr gutes Stimmmaterial vorhanden, als man glaubt – genauso viel, wie verschüttetes Seelengut in verhemmten Körpern verborgen liegt“, schrieb die Sängerin und Gesangspädagogin Franziska Martienßen-Lohmann 1959. Viele Chorsänger meinen genau das, wenn sie sagen: „Ich bin so gestresst hergekommen und gehe so gelöst wieder weg“, der vielleicht häufigste Satz, mit dem sie ihr Erlebnis beschreiben.

Trauen Sie sich!

Die Gehirnforschung bestätigt diese Empfindungen. „Balsam für die Seele und Kraftfutter fürs Gehirn“ sei das Singen gerade für Kinder, meint Hirnforscher Gerald Hüther. Beim gemeinsamen Singen werden gleichzeitig sehr unterschiedliche Netzwerke aktiviert und miteinander verknüpft, es trainiert die Fähigkeit zur „Einstimmung“ auf andere und die zur Selbstkontrolle und Selbstkorrektur. Sein Resümee: „Es ist eigenartig, aber aus neurowissenschaftlicher Sicht spricht alles dafür, dass die nutzloseste Leistung, zu der Menschen befähigt sind – und das ist unzweifelhaft das unbekümmerte, absichtslose Singen – den größten Nutzeffekt für die Entwicklung von Kindergehirnen hat.“ Umso wichtiger, dass Eltern selbst für ihre Kinder und mit ihnen singen, statt nur die Musikanlage anzustellen. Und umso unverständlicher, wenn das Singen, wie der Sänger Thomas Quasthoff jüngst im Tagesspiegel beklagte, zur Erzieherausbildung nicht mehr zwingend dazugehört.

Bis ins hohe Alter zahlt sich das gemeinschaftliche Singen aus – etwa in der Therapie von Dementen und Schlaganfallpatienten. Wenn das Gedächtnis Fakten und Familienangehörige längst entsorgt hat, bleiben Melodien und Texte aus Kindheits- und Jugendtagen oft erhalten, leben alte Menschen beim Singen auf. Wie wird es denjenigen von uns im Alter gehen, die heute und in ihrer Jugend keine Lieder gelernt haben?

In einigen europäischen Nachbarländern oder in Russland ist es noch eher üblich, dass die Menschen auf privaten Feiern miteinander singen. Deutschland hat dafür eine erfreulich große Vielfalt an Laienchören. Wo Chöre sind, sind Auftritte, wo Auftritte sind, kommen Partner und Freunde mit, jeder Chor strahlt in die Gesellschaft aus. Und doch: Es erheben nur diejenigen ihre Stimme, die dem Singen ganz bewusst einen Platz in ihrem Leben und ihrem Kalender zugewiesen haben. Das beiläufige, alltägliche, allgemeine, spontane, generationenübergreifende, die Gemeinschaft tröstende und beflügelnde Singen ist tot. Das ist traurig, aber wohl nicht zu ändern. Nur zu Weihnachten können viele von uns erleben, was es einmal bedeutet haben mag, was es bedeuten kann.

Trauen Sie sich.

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