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TV-Duell: Angela Merkel (CDU) gegen Peer Steinbrück (SPD).

© dpa

Ein Rückblick von Harald Martenstein: Was in diesem Wahlkampf wichtig war

Die Frau, die nicht zu fassen ist, gegen den Mann, der sich nicht im Griff hat – darüber diskutierte das Land. Doch über das wirklich Wichtige wurde kaum gesprochen, auch weil die Parteien so wendige Dienstleister sind.

Gesten und Bilder haben Wahlkämpfe beeinflusst, seit es sie gibt. Die sympathische oder unsympathische Ausstrahlung von Politikern ist immer wichtig gewesen. Willy Brandts Kniefall in Warschau, Willy Brandts Sexappeal. Ludwig Erhards Zigarre. Helmut Schmidts Mütze. Der aktuelle Wahlkampf wird wohl als der „Wahlkampf der Hände“ in Erinnerung bleiben. Angela Merkels Raute gegen Peer Steinbrücks Stinkefinger. Einerseits die Frau, die nicht zu fassen ist. Andererseits der Mann, der sich nicht im Griff hat. Das Ungefähre gegen das Aggressive. Warum können solche Bilder stärker wirken als Argumente? Sie sind einfach. Sie zu betrachten macht wenig Mühe. Und sie können Aufreger sein. Fernsehen, Zeitungen und Internet sind die Bühnen des Wahlkampfs. Marktplätze und Plakate sind unwichtiger geworden (was nicht heißt, dass sie völlig unwichtig geworden wären). Während die Politiker um Stimmen kämpfen, findet parallel ein zweiter Kampf statt, der seinen eigenen Gesetzen gehorcht, ein Kampf der Medien um Quoten und Auflagen, auch um Bedeutung. In diesem Kampf sind der vermeintliche oder tatsächliche Skandal, die Entgleisung, die Aufregung bares Geld wert. Diese Tatsache hat die Wahlkämpfe verändert.

Medien wollen den Skandal finden

Der Politiker will ein Image konstruieren und eine Botschaft vermitteln, das geht nur über die Medien. Die aber wollen dekonstruieren, enthüllen, die Maske vom Gesicht reißen, den Skandal finden oder ihn simulieren. In Gestalt der Politiker und der Medien stehen sich im Wahlkampf zwei Spieler gegenüber, die einander brauchen, die sich mitunter gegenseitig verachten und die unterschiedliche Interessen haben. Die Machtverhältnisse zwischen den beiden aber haben sich in den letzten Jahren verschoben. In einer Medienlandschaft voller Tabus, wie es sie 1960 gab, wäre Christian Wulff vielleicht heute immer noch Bundespräsident, und der Verteidigungsminister hieße Guttenberg.

TV-Duell zwischen Merkel und Steinbrück war mehrfach gegen Überraschungen abgesichert

Seit alles gefilmt wird, seit jeder falsche Zungenschlag und jede Verfehlung in Sekundenschnelle fast jedem Wähler im Internet bekannt wird, seit alles gut ausgeleuchtet wird und kaum noch etwas unter der Decke zu bleiben scheint, ist den Politikern ein Teil ihrer früheren Kontrollmacht entglitten. Es ist schwieriger geworden, gut auszusehen, denn niemand sieht immer gut aus. Nur in der streng ritualisierten, gegen Überraschungen mehrfach abgesicherten Fernsehdebatte zwischen Angela Merkel und ihrem Herausforderer Steinbrück, einem Staatsakt, konnte man noch einmal sehen, wie es früher war. Damals, als die Politiker die Medien noch gut im Griff hatten.

Angela Merkel hat aus diesen Verhältnissen die aus ihrer Sicht richtigen Konsequenzen gezogen. Sie hat sich in einen Tintenfisch verwandelt, der sich in seiner selbst geschaffenen Tintenwolke versteckt. Ihr Rezept: Es ist besser, nichts zu sagen, als etwas Falsches. Nur wer unsichtbar ist, zeigt keine Schwächen. Angela Merkel hat folglich bewiesen, dass ein Mensch jeden Tag im Fernsehen oder auf den Marktplätzen zu sehen sein, dass er stundenlang reden und trotzdem ein Phantom bleiben kann.

Für Peer Steinbrück gab es diese Option nicht. Der Herausforderer musste sich zeigen. Zu sehen war, erwartungsgemäß, ein Mensch mit Defiziten – Unbeherrschtheit, Selbstmitleid, fehlende Empathie, Machotum und so weiter. Auf der anderen Seite der Waage lagen Witz, Intelligenz, Kompetenz, Selbstironie, auch da gab es so einiges. Es liegt an der Struktur der Öffentlichkeit, dass monatelang jeder seiner Fehler schwerer zu wiegen schien als die Summe seiner Vorzüge. „Steinbrück war selbstironisch“ ist keine Schlagzeile. „Steinbrück macht einen Fehler“ dagegen schon.

Man kann nicht oft genug sagen: Ein sympathisches Wesen ist angenehm, aber politisch bedeutungslos. Ob jemand gute oder schlechte Witze macht, spielt für die Eignung dieser Person zum Staatenlenker keine wesentliche Rolle. Und kaum einer der großen politischen Köpfe der Vergangenheit hätte vor dem permanent tagenden Gericht der öffentlichen Meinung und unter den Bedingungen nahezu vollkommener Transparenz bestanden. Willy Brandt bestimmt nicht. Auch nicht Helmut Kohl.

Temperament von Peer Steinbrück nicht das größte Problem

Trotzdem war Steinbrücks Temperament nicht sein größtes Problem. Man muss sich daran erinnern, dass ihn Helmut Schmidt zum Kandidaten ausgerufen hat, Deutschlands heimlicher Kaiser, von diesem Moment an war Steinbrück für eine Weile der Favorit. Steinbrück sollte die SPD attraktiv machen für Milieus, die nicht gewohnheitsmäßig zur SPD tendieren, so die Idee. Sie scheiterte, als Steinbrück zum ersten Mal angreifbar erschien – die Vorträge! –, und als die SPD-Linke und ihr Vorsitzender die Gunst der Stunde nutzen. Steinbrück wurde zurechtgestutzt. Der Kandidat und das Programm, das er zu vertreten hatte, passten nicht zusammen. Plötzlich stand Steinbrück, einst einer der eifrigsten Verfechter von Gerhard Schröders Sozialreformen, neben einem Gewerkschafter, der einer der eifrigsten Gegner dieser Reformen gewesen ist, und beide taten so, als seien sie schon immer einer Meinung gewesen. Glaubwürdig sah das alles nicht mehr aus. Wenn Angela Merkel in diesem Wahlkampf der Tintenfisch war, dann ist Steinbrück der kastrierte Macho gewesen.

Eine Regierung wird abgewählt, wenn ihre Führung sich unmöglich gemacht hat, oder wenn man ihrer überdrüssig ist. Dieser Gefahr entging Angela Merkel, indem sie sich in ihrer Wolke versteckte. Eine Regierung wird abgewählt, wenn ein Thema auftaucht, das die Wähler bewegt und dem die Regierung nicht gewachsen zu sein scheint. Aber – gab es überhaupt Themen? Worum ging es eigentlich?

Gegen Ende des Wahlkampfs wurden die Rufe nach Steuererhöhungen, vor allem bei den Grünen, plötzlich leiser.

Die Europafrage ist vermutlich das wichtigste Problem der kommenden Jahre. Was wird aus dem Euro? Welche Belastungen kommen auf das Land zu, zerbricht der Wohlstand daran, zerbricht die europäische Harmonie, was wird aus dieser Wärmestube, in der es sich der selbsternannte Kleinstaat Deutschland jahrzehntelang bequem gemacht hat? Was bedeutet es für das soziale Klima, wenn die Sparer und die künftigen Rentner und überhaupt alle Kassen durch die Niedrigzinspolitik Jahr für Jahr schleichend enteignet werden? Können wir das wirklich alles gleichzeitig leisten – Europa, Banken, weiterer Ausbau unserer Sozialsysteme, mehr Geld für Bildung, Energiewende, mehr Geld für die Infrastruktur, Abbau der Staatsverschuldung? Und wenn wir das nicht alles gleichzeitig leisten können, wofür einiges spricht, wie entscheiden wir uns dann? Was sind unsere Prioritäten, und warum? Solche Fragen spielten im Wahlkampf lange Zeit kaum eine Rolle. Eher ging es um Angela Merkels Halskette, um den Veggie-Day und, gegen Ende, um Jürgen Trittins 30 Jahre zurück liegende Irrtümer.

Oppositionsparteien setzten im Wahlkampf auf Steuererhöhung

Die Oppositionsparteien, SPD, Grüne und Linke, vertraten, in unterschiedlichen Nuancen, das Konzept „Steuererhöhung“. So konnten sie der Frage nach Richtungsentscheidungen und nach Prioritäten elegant aus dem Weg gehen – wenn die Steuern hoch genug sind, ist alles bezahlbar, gewiss, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass diese Maßnahme nicht zu deutlich höherer Arbeitslosigkeit führt. Damit die Rechnung aufgeht, müssen außerdem relativ viele Bürger höhere Steuern bezahlen. Die Abschaffung des Ehegattensplittings betrifft auch die Mittelschicht. Ob man das nun richtig findet oder falsch, lustbesetzt ist diese Perspektive jedenfalls nicht.

Die Mittelschicht mag es auch überhaupt nicht, wenn man ihren relativ bescheidenen und in der Regel mühsam erarbeiteten Wohlstand als „ungerecht“ bezeichnet. Dementsprechend unerotisch sahen nach einer Weile die Umfrageergebnisse der Opposition aus. Am günstigsten war der Steuererhöhungswahlkampf erwartungsgemäß für die Partei, die diese Idee am radikalsten vertrat und deren Wähler am wenigsten von Steuererhöhungen betroffen wären, für die Linke. Die Frage, ob staatliche Finanznot vielleicht auch, an der einen oder anderen Stelle, durch Einsparungen gelindert werden könnte, war selbstverständlich tabu.

Gegen Ende des Wahlkampfs wurden die Rufe nach Steuererhöhungen, vor allem bei den Grünen, plötzlich leiser. Glaubwürdig war auch das nicht.

Ein Problem der Opposition bestand schon bald darin, dass SPD und Grüne gemeinsam sich in den Umfragen von einer Mehrheit immer weiter entfernten, eine Koalition mit der Linken aber ausgeschlossen wurde. Damit näherte sich die Bedeutung der Wahlen auf bedenkliche Weise dem Nullpunkt. Letztlich schien es nur noch darum zu gehen, ob Angela Merkel in den kommenden Jahren wieder mal mit der SPD regiert oder wieder mal mit der FDP. Sigmar Gabriel und Andrea Nahles als Minister unter Merkel, oder Brüderle und Westerwelle? Das ist alles, worum es wirklich geht? So mancher hat sich dann doch gefragt, ob es sich lohnt, wegen dieser Unterschiede das Haus zu verlassen, bei aller Liebe zu Frau Nahles oder Herrn Brüderle. Zumal klar war, dass in jeder denkbaren Konstellation Angela Merkel diejenige ist, die sich nicht die Butter vom Brot nehmen lässt. Dies darf als historisch bewiesen gelten.

Atom-Ausstieg gehörte jahrzehntelang zu den politisch umkämpftesten Themen

In den zurückliegenden Jahren haben sich die meisten Parteien verwandelt, aus den Sachwaltern politischer Ideen sind wendige Dienstleister geworden, die versuchen, ihren Kunden, den Wählern, die Wünsche von den Lippen abzulesen. Das ist keine Katastrophe, aber es relativiert die Bedeutung von Wahlen. Der Ausstieg aus der Atomenergie gehörte jahrzehntelang zu den politisch umkämpftesten Themen der Bundesrepublik, erreicht wurde er letztlich nicht durch Wahlen, sondern durch Umfrageergebnisse und eine plötzliche Eingebung der Kanzlerin.

Seit Angela Merkel und Ursula von der Leyen die CDU sozialdemokratisiert haben, verfügt das Land fast nur noch über die rechtssozialdemokratische CDU, die linkssozialdemokratischen Grünen und Linken sowie die mittelsozialdemokratische SPD. Dazu kommt die FDP, die in vier Jahren vor allem ihre Kompetenz in der Herstellung von Peinlichkeiten unter Beweis gestellt hat, als einzige echte Großtat bleibt die Senkung der Steuern für Hoteliers in Erinnerung. Noch eines haben die Wähler gelernt: Egal, was vor den Wahlen gesagt wird, nach den Wahlen wird möglicherweise das genaue Gegenteil in die Tat umgesetzt. Gerhard Schröders Politik hätte, mit wenigen Ausnahmen, vor allem dem Nein zum Irakkrieg, auch ein Kanzler der CDU machen können. Oder? Wahrscheinlich hätte Angela Merkel, wenn es wirklich ernst geworden wäre, ebenfalls zum Irakkrieg „nein“ gesagt. Angela Merkels Politik aber hätte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch ein Kanzler der SPD machen können.

Zwei Drittel der Wähler fanden den Wahlkampf langweilig

Deshalb sagen, in einer neuen Umfrage, zwei Drittel der Wähler, dass sie den Wahlkampf langweilig fanden. Etwa die Hälfte der Wähler erklären in der gleichen Umfrage, dass die wirklich wichtigen politischen Fragen nicht vorgekommen seien – welche Fragen das sind, wurde nicht abgefragt, da durfte sich jeder etwas denken. Und der Soziologe Harald Welzer veröffentlichte im „Spiegel“ einen Aufruf: Man solle am besten gar nicht wählen. Ein langweiliges Theaterstück vermeidet man ja auch. Nun ist der Nichtwähler, verglichen mit dem Protestwähler, der sein Kreuz bei einer Politsekte, bei Hassparteien oder Demagogen macht, eine eher harmlose Figur. Der Betrieb läuft störungsfrei weiter. Es gibt in Europa Staaten, in denen regelmäßig nur 50 oder 60 Prozent der Bürger zur Wahl gehen, trotzdem sind das funktionierende demokratische Systeme. Trotzdem hat die Erkenntnis, dass Nichtwählen salonfähig geworden ist, sogar bei politisch stark interessierten Intellektuellen wie Welzer, in den Tagen vor der Wahl eine Flut besorgter Artikel mit meist staatstragendem Unterton provoziert.

Ich kann die Nichtwähler verstehen. Das Theaterstück ist wirklich nicht gut. Trotzdem werde ich hingehen. Warum? Aus dem gleichen Grund, aus dem ich mich bücke, wenn ich auf der Straße ein Zehn-Cent-Stück liegen sehe. Es sind nur zehn Cent. Man kann sich fast nichts davon kaufen. Fünf Euro wären mir lieber. Aber, mein Gott, Geld ist es trotzdem. Fast nichts ist immer noch mehr als gar nichts.

Der Wahlkampf ist zu Ende. Am Sonntagabend wissen wir, ob Brüderle oder Gabriel im nächsten Kabinett sitzen. Ob wir nun wollen oder nicht.

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