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Geordnetes Anstehen: Kinder in Fukushima werden Mit Strahlenmessgeräten untersucht.

© dpa

Ein schwacher Trost in finsterer Zeit: Was bleibt, wenn nichts geblieben ist

In größter Not verhalten sich die meisten Japaner bewundernswert ruhig. Über das Warum dieser stoischen Haltung gibt es viele Thesen.

Keine Panik, keine Plünderungen, kein Gedränge um knappe Güter, stattdessen: Geduld, Ausdauer, Höflichkeit. Die Reaktion der Japaner auf die Erdbeben- und Tsunami-Katastrophe ist bewundernswert. Im Vergleich zu den zum Teil chaotischen Szenen aus New Orleans oder Haiti scheint das Land in einer zivilisatorisch anderen Welt zu liegen. Not macht selten gut. Aber in der Not scheidet sich manchmal das Gute vom weniger Guten.

Über das Warum dieser stoischen Haltung gibt es viele Thesen. Japaner seien katastrophenerfahren, heißt es. Als Buddhisten akzeptierten sie das Leiden als unabänderlichen Bestandteil des Lebens. Die soziale Absicherung erlaube es ihnen, derart gelassen zu bleiben. Jede dieser Antworten überzeugt. Und doch bleibt ein Rest an Respekt, der in ihnen nicht aufgehen will.

Vor knapp zwei Monaten schilderte der Japan-Korrespondent der „Neuen Zürcher Zeitung“, Urs Schoettli, eine Episode aus der dritten Klasse einer Grundschule im Großraum Tokio. Zur Mittagszeit sitzen 34 Mädchen und Jungs im Alter von rund neun Jahren in Zweierreihen und warten aufs Essen. Drei Jungs gehen in die Küche und holen große Schüsseln mit Nudelsuppe. Sie füllen die Suppe in die Schalen. Allerdings müssen sie an diesem Tag zu viel Suppe verteilt haben, denn zum Schluss sind noch drei Schalen übrig. Was tun? „Nach kurzer Bedenkzeit sammeln sie die bereits ausgeteilten Schalen wieder ein, leeren den Inhalt zurück in den Kessel und beginnen die Verteilaktion von vorne.“ Kein Kind murrt oder protestiert gar. Erst als alle Schalen gefüllt sind, wird mit dem Essen begonnen.

Nun mag es eine Kehrseite solcher Erziehung geben. Spontaneität und individuelle Entfaltung werden womöglich unterdrückt, wenn das kollektive Wohl einen derart hohen Stellenwert bekommt. Vielleicht sind Japaner auch überdiszipliniert. Der „NZZ“-Korrespondent indes beschreibt plausibel, warum der Schlüsselbegriff für das Verständnis dieser Kinder nicht „Kollektivismus“ heißt, sondern „Empathie“. Dazu gehört „die hohe Wertschätzung für alles, was einem andere an Hilfe und Kooperation erbringen, sowie eine ausgeprägte Achtung für ältere Menschen und Autoritätspersonen wie die Eltern und die Lehrerin“.

Mit Empathie ist freilich nicht bloßes Mitgefühl gemeint, diese Anmaßung, in einen Anderen eindringen zu können („Ich fühle, was Du fühlst“). Im aufgeklärten Sinn bedeutet Empathie eher eine Erkenntnis als eine Emotion. Man versteht die Welt des Anderen, indem man sich bemüht, seine Reaktionen zu begreifen. Solche Empathie schließt die intellektuelle Fähigkeit zum Rollentausch mit ein.

Katastrophen werfen uns auf die Grundlagen der Moral zurück. Finde ich Halt im Kampf ums Überleben oder im Mit-Sein der Überlebenden? Die Japaner geben der Welt ein Beispiel dafür, wie stark die Gemeinschaft von Hilfsbedürftigen sein kann, wenn sie sich weiter als Menschen sehen und sich nicht durch die Not in Wölfe verwandeln. Das ist ein schwacher Trost in finsterer Zeit.

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