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Ein SPRUCH: Kür ohne Klausel

Nie wieder Krieg, nie wieder Holocaust, nie wieder Diktatur. Soweit die Gewissheiten und Lehren, die sich zum politischen Fundament der Bundesrepublik verdichtet haben.

Nie wieder Krieg, nie wieder Holocaust, nie wieder Diktatur. Soweit die Gewissheiten und Lehren, die sich zum politischen Fundament der Bundesrepublik verdichtet haben. Halt, eine fehlt: Nie wieder Weimar! Die Fünf-Prozent-Klausel bei Bundestagswahlen zu kippen, wäre deshalb ein Vorhaben, das mit Wiederbewaffnung und Bundeswehr-Kampfeinsätzen vergleichbar wäre. Ein Tabubruch, eine Zäsur. Doch die Remilitarisierung Deutschlands war notwendig und verlief nach vielen Kontroversen friedlich. Warum also nicht auch die Redemokratisierung des Bundestags?

Die Linken haben die Debatte nach dem Karlsruher Urteil zum Wegfall der Sperrklausel bei Europawahlen anstoßen wollen, Gregor Gysi möchte klagen. Damit müsste er scheitern, weil die Klausel für die deutschen Parlamente den verfassungsrichterlichen Segen hat. Es wäre ein politisches Projekt. Dennoch, die Argumente der Richter dürften helfen.

Deutschland hat sich für die Verhältniswahl entschieden und damit für ein strenges Gleichheitsregime in der Stimmenwertung. Sperrklauseln sind also rechtfertigungsbedürftig. Für die Europawahl haben die Richter keine Gründe gesehen, weil das Straßburger Parlament längst nicht mit den Kontroll- und Legislativrechten ausgestattet ist wie der Bundestag. Für diese Feststellung sind die Richter zu Unrecht gescholten worden. Sie haben lediglich gesagt, was ist.

Die Weimarer Republik ist eher an den damals herrschenden Verhältnissen zugrunde gegangen als an einer fehlenden Klausel. Kriegsfolgen, Umstürze, Hyperinflation und Weltwirtschaftskrise ließen dem Parlamentarismus kaum Luft. Ideologische Zerrissenheit und Klientelismus waren Zeichen der Zeit. Dass derartige Zustände mit Wahlrechtsklauseln zu ordnen wären, ist, typisch deutsch, legalistische Träumerei. Auch das tolle Grundgesetz ist nur so gut wie die Bürger, die Parteien und Institutionen, die es tragen.

Heute ist Deutschland eine gewaltige Mitte. Der Aufstieg der Grünen vervollkommnet das Bild. Seit dem Ende von Helmut Kohl wird das Land von rechten Mitte-Links- oder linken Mitte-Rechts- oder gleich ganz großen Koalitionen regiert. Das Parlament hat Souveränität an Brüssel abgegeben, im Gegenzug muss es dort Beschlossenes abnicken. Im Kontext der EU besteht eine starke politische Agenda, der sich die wenigsten Parteien und wohl auch die wenigsten Bürger entziehen wollen. Sonst wären Gauweiler, Henkel & Co mehr als bloß Medienstars.

Die Bürger bilden eine Stabilitätsreserve, auf die sich die Politik verlassen kann. Aber sie wollen ihre Vielfalt gespiegelt sehen, wie die Euro-Debatten zeigten. Stabilität ist gut, aber ein Parlament braucht auch Beweglichkeit und Originalität, braucht Neues und Verwegenes, braucht die Kür. Vor allem, wenn das Pflichtprogramm groß und größer wird.

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