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Meinung: Ein tiefer Fall

Lance Armstrong verliert alle Titel. Doch die Dopingkrise des Radsports ist nicht zu Ende.

Auf den Gipfeln der Welt war er oft allein, einsam wirkte er nicht. Lance Armstrong hat den Krebs besiegt und ist danach als einziger Radrennfahrer der Welt auf jedem noch so hohen Berg am schnellsten durchs Ziel gerauscht. Er ist in die Geschichte eingegangen mit seinen sieben Triumphen bei der Tour de France. Doch die Geschichte wird jetzt neu geschrieben, ohne ihn.

Armstrong war der erste Radsportheld der USA und der globalisierten Welt. Er hat Konkurrenten am Anstieg gedemütigt, er hat das Feld hinter sich beherrscht als Speichen-Napoleon, großzügig gesponsert von Weltfirmen, hartnäckig abgeschirmt von seiner Helferarmee. Kritiker landeten gerne mal im Straßengraben.

Nun haben sie ihn von seinem auf Lügen errichteten Sockel gestoßen. Der Unantastbare wird zum einsamen Mann, im Geschichtsbuch nur noch geführt als König des Dopings. Wäre Armstrongs Herrschaft, die einen eigentlich ästhetischen Sport in einen synthetischen verwandelte, nicht so monströs gewesen, wie man es heute auf 1000 Seiten Ermittlungsakten nachlesen kann, könnte er einem fast leidtun. Muss er aber nicht.

Lance Armstrong verliert seine Titel viel zu spät und völlig zu Recht. Sein Betrug ist erwiesen, nachdem seine einstigen Vasallen auf dem Rad unter Druck zu Kronzeugen wurden. Der Radsport- Weltverband UCI, der sein Idol gegen alle Indizien schützte und die Ermittlungen der US-Dopingjäger bis zum Schluss unterlief, muss nun ein Jahrzehnt des falschen Glamours aus den Annalen löschen. Die Siegerlisten der Tour de France sollten für viele Jahre ganz geleert werden; denn dort, wo noch Namen stehen, hängen viele Fragezeichen dahinter – so viele, dass sie wie Ausrufezeichen erscheinen. Armstrong war nur der Kopf eines Sports, der ohne Doping offenbar nicht funktioniert, ja, der sein Fundament in den Neunzigerjahren auf Blut- und Geldwäsche baute.

Vor aller Welt offenbart sich ein feinmaschiges, millionenschweres Netzwerk, das weit über das Fahrerfeld hinausragte. Dem Dopingarzt Michele Ferrari hatte Armstrong über Tarnfirmen mehr als eine Million Dollar zukommen lassen, auf dass er ihn besser aufputsche als alle anderen. Dopingkontrolleure wurden bestochen, positive Tests verschwanden, anhängige Verfahren wurden vom Weltverband begraben – und in Armstrongs Teams machten sich alle Fahrer und Betreuer zu Mittätern und -schweigern. Mit diesem Dopingskandal hat der Radsport einen neuen Gipfel erklommen.

Die Athleten der Neuzeit können dem Skandal nicht davonfahren. Zwar treten nun Sponsoren die Flucht nach hinten an und steigen aus; Sponsoren, die sehenden Auges nichts sehen wollten und sowohl Armstrong stützten (Nike) als auch das Spektakel Tour (Rabobank). Zwar sagt UCI-Chef Pat McQuaid: „Lance Armstrong muss vergessen werden.“ Aber wie soll das gehen? Das blendende Jahrzehnt des Sports wird ein blindes; es bleibt doch vor aller Augen.

Armstrongs System ist Gegenwart. Noch sitzen in vielen Teams die Helfershelfer und Dopingkuriere aus dem Gestern im Heute, noch regieren im Radsport-Weltverband und bei den Tour-Organisatoren die Mitwisser und Abstreiter, noch gibt es keine effiziente Dopingkontrolle schon im Training und keine so hartnäckige Betrügerjagd wie beim gefallenen König – erst recht nicht in Deutschland.

Der Radsport kann nur von vorn beginnen, wenn er nach hinten schaut und sich ehrlich ansieht.

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