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Ein Zwischenruf zu Erdogans türkischen Schulen: Barbara John über die mangelnde Neugier und Entdeckerfreude der Schüler

Spracharmut im Deutschen entsteht nicht so sehr dadurch, dass in der Familie nur Türkisch oder Arabisch gesprochen wird. Sie entsteht, weil es den Kindern an Erfahrungen mangelt

Kürzlich erzählte ein neunjähriger Schüler, Kind türkischer Eltern, seiner Betreuerin im Schularbeitszirkel: „Die Erde ist aus Glas, wie finden Sie das?“ Auf die erstaunte Frage, wie er darauf käme, antwortete er: „Mein Lehrer hat gesagt, die Erde ist eine Scheibe.“ Ein dummes Kind? Aber nicht doch. Ein aufgewecktes Kind! Hätte es sich sonst Gedanken gemacht über den augenscheinlichen Widerspruch zwischen Erfahrung und (eindimensional verstandener) Begrifflichkeit? Auf jeden Fall aber ein Kind, das neben seiner Spracharmut auch arm ist an Welt- und Sachwissen.

Und weil dieser Junge kein Einzelfall ist, geht die deutsch-türkische Rangelei um „türkische Gymnasien“ in Deutschland am eigentlichen Problem total vorbei. Bisher erreicht nur einer von acht Jugendlichen türkischer Herkunft die Hochschulreife. Was für eine Vergeudung von Talenten und Aufstiegshoffnungen. Wer das ändern will, der muss mit seinen Bildungskonzepten erst mal runtersteigen – dahin, wo Kinder mit allen Sinnen ihre Umwelt zu erfassen suchen und sich ihre geistigen und sprachlichen Grundlagen aneignen. Das beginnt ganz früh in der Familie, aber auch noch in der Kita und Grundschule.

Wie kommt es, dass viele in der Grundschule, darunter auch deutsche, den Namen keines Geschäftes, keiner Blume, keines Baums, keines Vogels kennen, wie Lesepaten zu berichten wissen, obwohl die Kinder in einer kulturell reichen, alle Sinne ansprechenden Großstadt aufwachsen, die zudem umgeben ist von einer einladenden Bilderbuchlandschaft?

Weil viele Elternhäuser nichts anzufangen wissen mit der Welt, die außerhalb ihrer Wohnung liegt. Weil Fernseher und Familienbesuche als häufigste Freizeitaktivitäten kindliche Neugier und Entdeckerfreude abstumpfen und zuschütten – und nicht anregen. Weil Reizüberflutung die Kinder chloroformiert. Es ist ein verbreiteter Irrtum, Spracharmut im Deutschen entstehe zwangsläufig dann, wenn in der Familie etwa nur Türkisch oder Arabisch gesprochen wird. Sie entsteht, weil es an Erfahrungen mangelt und an intensiver sprachlicher Interaktion, auch in der Muttersprache.

Was ich vorschlage, wird dem türkischen Ministerpräsidenten nicht gefallen, weil solcher Intervention das Osmanisch-Hoheitliche fehlt. Aber wirken würde es schon, wenn der Regierungschef auf allen türkischsprachigen Fernsehprogrammen mehrmals täglich mahnt, die Aus-Taste zu drücken und gemeinsam mit den Kindern aktiv zu werden und den Ort, in dem sie leben, zu erkunden.

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