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Meinung: Eine Frage gerechter Teilhabe

Der Begriff „Unterschicht“ ist diskriminierend / Von Bischof Wolfgang Huber

Seit der SPD-Vorsitzende Kurt Beck vor einigen Tagen aus einer bislang noch nicht veröffentlichten Studie der Friedrich-Ebert- Stiftung zitiert hat, nach der sich acht Prozent der Deutschen in einer prekären Lebenslage befinden, ist das Wort „Unterschicht“ in aller Munde. Ist mit dem Begriff aus der Soziologie belegt, dass wir in einer Klassengesellschaft leben? Natürlich nicht, wie schon der Unterschied zwischen „Schicht“ und „Klasse“ zeigt. Aber ganz unabhängig davon halte ich den Begriff der „Unterschicht“ für irreführend. Er rückt eine Gruppe von Menschen, die auf Transferleistungen des Staates angewiesen sind, an den sozialen Rand unserer Gesellschaft. Er erweckt den Eindruck, daran lasse sich nichts ändern. Er lenkt von der Aufgabe ab, gerade Menschen in prekären Lebenssituationen den Zugang zu Arbeits- und Lebensmöglichkeiten zu eröffnen. Das verfehlt die Aufgabe, um die es geht. Und es wirkt diskriminierend.

Es geht freilich um mehr als nur um eine Begriffsdebatte. Wir brauchen eine Debatte über die Sache selbst. Es gibt eine Reihe beunruhigender Vorgänge, die noch immer nicht die nötige Aufmerksamkeit finden. In ihrer Mehrheit kümmert sich unsere Gesellschaft nicht um die Lebensverhältnisse der acht Prozent, die am Rand leben, oder um die Besorgnisse der über dreizehn Prozent, die von Armut bedroht sind. Im Osten Deutschlands liegt der Anteil jeweils erheblich höher. „Hartz IV“, eine Reform, die den Sozialstaat zukunftsfest machen sollte, erweist sich inzwischen für viele als eine Rutschbahn, auf der aus Dauerarbeitslosigkeit Armut wird. Auf der einen Seite sehen wir diejenigen, die aus der Arbeitslosigkeit wieder herausfinden; doch auf der anderen Seite stehen diejenigen, bei denen Bildungsferne und die Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen an die nächste Generation vererbt werden.

Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Es ist genauer eine Frage nach gerechter Teilhabe. So hat die Evangelische Kirche in Deutschland vor kurzem in einer Denkschrift die Aufgabe beschrieben, die sich aus der Entwicklung von Armut in unserem Land ergibt. Gerechtigkeit schließt gerechte Teilhabe ein. Jeder Mensch muss die Chance haben, durch sein eigenes Bemühen Arbeit und Bildung zu erlangen. Nur eine Gesellschaft, die Beteiligungsgerechtigkeit als Wert anerkennt, kann den Teufelskreis von Armut und Abhängigkeit durchbrechen. Und nur eine Gesellschaft, die aus diesem Grund Befähigungsgerechtigkeit zum entscheidenden Maßstab für den Umgang mit der jungen Generation macht, wird dagegen ankämpfen, dass das Bildungssystem Benachteiligungen verfestigt, statt sie zu überwinden.

Es gibt durchaus Grund zur Hoffnung. Statistisch betrachtet lässt jeder dritte Mensch, der in Armut gerät, diesen Zustand nach einem Jahr hinter sich; für ein weiteres Drittel ist dies nach zwei Jahren der Fall. Aber auch das verbleibende Drittel gehört nicht zu einer „Unterschicht“, deren Schicksal unabwendbar ist. Der Staat sollte sich nicht scheuen, für die so Betroffenen einen „dritten Arbeitsmarkt“ zu schaffen, wie der Ökonom Gerd G. Wagner vorschlägt. Wer arbeitet, kann auch für seine Kinder eher ein Vorbild sein; wer dagegen in seinem eigenen Leben keine Perspektive sieht, wird auch seinen Kindern keine Perspektive vermitteln. Wohin das führen kann, wird uns derzeit in bedrückenden Beispielen von Vernachlässigung vor Augen geführt. Vor ihnen dürfen wir nicht resignieren; wir müssen dagegen tun, was nur möglich ist.

Es reicht nicht zu verabreden, dass wir nicht über eine „Unterschicht“ reden. Viel wichtiger ist, dass keine entsteht. Die dafür notwendige Anstrengung dauert länger als die Erregungswelle über ein Wort.

Der Autor ist Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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