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Meinung: Eine wahre deutsche Tragödie

Von Roger Boyes Wahlkampf in Erfurt: Zuwanderung, Arbeitslosigkeit, Kandidaten – alles irrelevant. Die Politiker machen ihre Pilgerreise vorzugsweise mit dem Helikopter (der Zug von Berlin braucht vier Stunden), legen Blumen ab, die von jemand anderem getragen wurden und warten auf die Kameras.

Von Roger Boyes

Wahlkampf in Erfurt: Zuwanderung, Arbeitslosigkeit, Kandidaten – alles irrelevant. Die Politiker machen ihre Pilgerreise vorzugsweise mit dem Helikopter (der Zug von Berlin braucht vier Stunden), legen Blumen ab, die von jemand anderem getragen wurden und warten auf die Kameras. Die Erfurter haben die Nase voll von uns Journalisten und den Politikern. Sie wollen reden, aber nicht mit Leuten, die auf ihre Uhren gucken.

Ich habe letzte Woche mitgehört, was ein Kollege in sein Handy rief: „Ja, ja, sie bekommen einen guten Text, bis vier Uhr, o.k., ich kann jetzt nicht reden. Ich interviewe ein Opfer.“ Als er fertig war, hatte sich das Opfer – die Schwester eines Lehrers, dessen Leiche noch warm war – schon abgewandt und begonnen wegzulaufen, weg von all den Mikrofonen.

Die Erfurter wollen in Ruhe gelassen werden. Damit haben sie sowohl Recht als auch Unrecht. Unrecht, weil Erfurt eine nationale Tragödie ist und diese Tragödie muss beschrieben werden. Recht, weil Politiker im Wahlkampf meistens mit schlechten Antworten aufwarten oder die falschen Fragen stellen.

Viel Glück gewünscht

Der erste Reflex der Politiker – die Waffengesetze zu verschärfen und die so genannten „Killerspiele“ zu verbieten – ist unangemessen, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass die politische Klasse ein wenig tiefer graben will nach den Ursachen. Denn das wahre Problem, das nur von einigen Erfurtern erkannt wurde, ist, dass die Beziehung zwischen Familie und Schule zusammengebrochen ist.

Der Schlüssel zur Tragödie und gleichzeitig der Kino-Moment war der Augenblick, als die Mutter von Robert Steinhäuser ihm „viel Glück“ wünschte – fürs Abitur, nicht für das Massaker. Nichts entlarvt die Unwissenheit dieser wohlmeinenden Mittelstandsfamilie besser. Die Schule hat die Familie im Stich gelassen und die Familie ihren Sohn. Es kann nicht sein, dass eine Schule einen Schüler rauswirft und diese Angelegenheit nicht vorher mit den Eltern bespricht. Die Verantwortung einer Schule gegenüber den Eltern endet schließlich nicht mit dem Elternabend. Die Familie ihrerseits hat sich schuldig gemacht wegen mangelnden Interesses. Sie liebten ihren Sohn, aber Liebe ohne Interesse ist wertlos. Steinhäusers Innenleben war schlicht ein Rätsel für jeden, aber Rätsel können gelöst werden.

Seit 1928 im selben Haus

Nun ist diese Erfurt-Dynastie – vier Generationen von Steinhäusern haben in jenem Haus seit 1928 gelebt – zum Niedergang verurteilt wie Thomas Manns Buddenbrooks. Die Eltern werden die Stadt verlassen und zu Ausgestoßenen werden. Ihr Schicksal ist verglichen mit dem der Getöteten trivial, aber sie werden eine Art von Sozialtod erleiden. Sie sind an ihrem Sohn gescheitert, aber die Gesellschaft in Form des gesichtslosen Bildungssystems ist auch ihnen gegenüber gescheitert.

Unglücklicherweise laufen Politiker vor dem Scheitern davon und Journalisten, die die Welt in Helden, Verbrecher und Opfer einteilen, sind auch keine Hilfe. Es ist höchste Zeit, zu verstehen, was im Haus der Steinhäusers passiert ist, weil seine Geheimnisse eine wahre deutsche Tragödie in sich bergen.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“.

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