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Meinung: Einmal alles können

Was wäre wenn (2) – nach der Wahl eine Große Koalition regiert

Von Hermann Rudolph

Wenn die unauslotbare Weisheit des Wahlgausgangs ergäbe, dass eine Große Koalition die einzige oder die beste unter möglichen Konstellationen wäre, dann bedeutete das immerhin, dass es der deutschen Politik für die vor ihr stehenden großen Aufgaben nicht mehr an Mehrheiten fehlte – Verfassungsänderungen eingeschlossen. Aber statt des ersehnten großen Rucks träte vermutlich zunächst etwas anderes ein: nicht mehr Eintracht, sondern ziemlich viel Streit. Denn beide Parteiführungen müssten ein solches Mammut-Bündnis erst einmal in den eigenen Reihen durchsetzen. Wie rasch SPD und CDU/CSU es auch fertig brächten, über den eigenen Schatten zu springen, wie kompetent die gemeinsame Regierung ausfiele – zunächst ständen stürmische Parteitage ins Haus. Die schöne Geschlossenheit wäre perdu. Die Parteiführungen ständen vor dem Härtetest innerparteilicher Meinungsbildung.

Andererseits: Würde sich diese Anstrengung nicht lohnen? Die meisten haben inzwischen begriffen, dass eine Große Koalition kein demokratischer Sündenfall ist. Nicht wenige haben erkannt, dass die Große Koalition von 1966 bis 1969 eine der produktivsten Perioden der Nachkriegsgeschichte war. In ihr begann die überfällige Modernisierung der deutschen Politik, der Um- und Ausbau von Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie der Sozialpolitik, die die Fundamente für gut zwei Jahrzehnte der Nachkriegsgeschichte legten. Eine vergleichbare Anstrengung wird heute von allen Seiten eingeklagt – zu Recht.

Also böte eine Große Koalition die Aussicht, dass SPD und CDU/CSU gemeinsam eine vernünftige Steuerreform durchsetzen? Dass sie den Arbeitsmarkt entzerren, weil die Gewerkschaften nicht mehr blockieren können und die Wirtschaft mit ihrer Interessenpolitik nicht mehr überzieht? Dass die Bildungspolitik den Reform-Schub bekommt, den sie in den sechziger Jahren ja tatsächlich erhielt? Aber damals waren der Großen Koalition viele kleine Große Koalitionen auf den verschiedensten Gebieten vorausgegangen – eine von allen Parteien getragene große Steuerreform-Kommission, der Schulterschluss der Sozialpolitiker, ein parteiübergreifendes bildungspolitisches Erwachen.

Nichts davon heute. Eine Große Koalition nach dem 22. September wäre nur das Ergebnis des arithmetrischen Zwangs. Da ist zu befürchten, dass nur ihre fatale Seite zum Zuge käme, die sich eben auch Ende 1966-1969 zeigte: dass sie, wie Willy Brandt damals sagte, zum „Schwungrad“ für Staatsverdrossenheit wird. Für solche Folgen Großer Koalitionen gibt es genügend Beispiele - ohne die schwarz-rote Koalition in Österreich kein Haider, ohne die französische Kohabitation kein Erfolg von Le Pen.

Und außerdem müssten die Streitäxte vergraben werden, mit denen man in den letzten Jahren aufeinander eingeschlagen hat, nicht nur im Wahlkampf. Und die Gespenster müssten gebannt werden, die immer wieder die alten Tatorte heimsuchen – Kohl, Lafontaine und ihre Sympathisanten. Und beide Parteien müssten ihren Frieden schließen mit der schmerzhaften, jede Partei überfordernden Zwangsläufigkeit, dass nur eine den Kanzler stellen kann. Wenn das gelänge, wäre die Zeit reif für die Einsicht, dass der Zwang des Wahlergebnisses auch eine Chance sein kann. Denn das weiß inzwischen jeder: Die wichtigsten Aufgaben in der Bundesrepublik sind nur dann zu bewältigen, wenn ihre Lösung von breiten Mehrheiten getragen wird.

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