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Bildung tut Not - zumindest auch, um eine SMS fehlerfrei zu schreiben.

© dpa

Eltern ohne Verantwortung: Mit beschränkter Haftung

Ist die Note schlecht, wird der Anwalt eingeschaltet. Denn Schuld an Bildungsdefiziten haben immer andere, nie das eigene Kind. Sozialer Ausgleich, Integration, Erziehung: Das System Schule wird überfrachtet.

Folgende drei Meldungen würden es nie auf die Titelseite einer Zeitung schaffen: „Reiche machen länger Urlaub als Arme“, „Reiche gehen öfter in Restaurants als Arme“, „Reiche fahren größere Autos als Arme“. Diese Meldung dagegen schafft es regelmäßig: „Soziale Herkunft entscheidet über Bildungschancen“. Jede neue Bildungsstudie bestätigt diesen Befund, der in erster Linie als Skandal wahrgenommen wird. Denn Schule hat Chancengleichheit zu garantieren, der familiäre Einfluss auf die kognitive Entwicklung der Kinder muss möglichst nivelliert werden.

Man stelle sich einmal das Gegenteil der Nachricht vor, den Satz also: „Soziale Herkunft hat keinen Einfluss auf schulische Erfolge“. Wäre das nicht seltsam? Würde das nicht zum Beispiel bedeuten, dass jene 1,5 Milliarden Euro, die jährlich überwiegend von akademischen, bildungsnahen, arbeitstätigen Eltern für Nachhilfekosten ausgegeben werden, wirkungslos verpuffen? Voraussetzung für die Nachricht wäre die komplette staatliche Kontrolle über die Entwicklung von Kindern, die hundertprozentige Ausschaltung familiärer Faktoren. Ist dieses Ideal wünschenswert?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich müssen Kinder aus bildungsfernen und/oder sozial schwachen Milieus besonders und gezielt gefördert werden. Gesamtgesellschaftlich gilt: Unser Nachwuchs ist unsere Zukunft. Das hat weniger mit Humanität und Moral zu tun als mit dem wohl verstandenen Eigeninteresse eines modernen Gemeinwesens. Die beruflichen Anforderungen steigen, Fachkräftemangel droht, die Ausgaben für Arbeitslosigkeit müssen begrenzt werden. Erfolge in der Bildungsarbeit sind dafür unerlässlich. Ein Land, in dem geistige Potenziale zu den Rohstoffen zählen, weil es andere nicht gibt, muss diese Potenziale möglichst effektiv ausnutzen.

Dennoch dürfen nicht alle Probleme auf die Schule abgewälzt und Eltern aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Doch die Tendenz besteht. Immer mehr Zeit verbringen Kinder und Jugendliche in Betreuungseinrichtungen wie Krippen, Kindergärten, Horten, Ganztagsschulen. Dem Zugriff der Eltern werden sie entzogen, entsprechend steigen die Erwartungen vieler Eltern an die entsprechenden Institutionen. Unlängst hatten Eltern in Berlin gegen die schlechten Noten ihrer Kinder geklagt, die angeblich verursacht worden waren durch den hohen Migrantenanteil in der Klasse, der 63 Prozent betrug. Die zwei Jungen und ein Mädchen hatten die Probezeit an einem Gymnasium in Neukölln nicht bestanden. Sie sind selbst keine Muttersprachler, haben arabische und türkische Wurzeln.

Die Klage wurde zwar abgewiesen, ist aber symptomatisch. Immer mehr Eltern nehmen Schulen in Haftung für ausbleibende Bildungs- und sogar Erziehungserfolge ihrer Kinder. Da sind die sogenannten „Helikopter-Eltern“, die ihren Nachwuchs wie Hubschrauber umkreisen und überwachen, wöchentlich den Klassenlehrer anrufen und einen Rechtsanwalt einschalten, wenn die Zensuren nicht stimmen. Und es gibt die, die sich kaum noch kümmern, weil sie hoffen, dass das System Schule ihnen alle bildungsbegleitenden Funktionen vollständig abgenommen hat. Das Ergebnis ist dasselbe: Eltern fühlen sich erst „aus dem Spiel genommen“, dann akzeptieren sie die neue Rolle und wenden sie in erhöhter Anspruchshaltung gegen die Schule.

Die soll nun alles richten: Erziehungsdefizite wettmachen, Integrationsarbeit leisten, soziale Unterschiede ausgleichen. Das aber kann nicht funktionieren. Lehrer klagen über Burn-out, fühlen sich überfordert. Bundesweit monieren drei Viertel aller Hauptschullehrer und immerhin 28 Prozent der Gymnasiallehrer, dass sich Eltern zu wenig für die schulischen Leistungen ihrer Kinder interessieren (an Real- und Sekundarschulen sind es 40 Prozent). Nur acht Prozent aller Lehrer wiederum glauben, selbst einen sehr großen Einfluss auf ihre Schüler zu haben. Überspitzt formuliert: Apathische Eltern plus machtlose Lehrer – das ist wahrlich keine gute Kombination.

Hinzu kommt, dass Appelle an die erzieherische und bildungsvermittelnde Verantwortung von Eltern meist ungehört verhallen, während die Öffentlichkeit glaubt, am System Schule permanent an Stellschrauben drehen zu müssen und können. Hier noch eine Reform, da noch ein paar Stellen, hier noch eine Zusatzausbildung, da noch einen Sozialpädagogen. Die Hyperaktivität befördert die Tendenz, jedwede Schuld an Bildungsdefiziten der Schule aufzubürden, nie aber den Eltern.

Amerika, ein Einwanderungsland, kennt das Ideal der „achieving society“. Nicht physische Stärke, Abstammung, Stände, Erbschaften, Zünfte oder andere Zugehörigkeiten sollen über den Erfolg entscheiden, sondern die eigenen Leistungen. Das Individuum will über sein Schicksal selbst bestimmen, jeder Mensch Schmied seines eigenen Glückes sein. Anstrengungsloser Wohlstand ist ebenso verpönt wie die ehrgeizlose Hoffnung auf den Staat, die Schule, das System.

Ein Quäntchen mehr von solcher Mentalität würde die deutsche Bildungsdebatte in bessere Bahnen lenken. Nein, die soziale Herkunft darf nicht vorrangig über Bildungschancen entscheiden. Aber es liegt auch in der Verantwortung der Eltern, dass sie es nicht tut. Aller Eltern. Ob Chefarzt oder Hartz IV.

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