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Stationen auf dem Weg zue Einheit: Die Volkskammer der DDR votiert für den Beitritt zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990.

© dpa

Ende der DDR: Treuhänder der Herbstrevolution

Die letzte DDR-Regierung tanzte nur einen Sommer. Doch ihre Verdienste sind zu Unrecht in Vergessenheit geraten.

Es ist wohl wirklich so: Wir vergessen zu schnell. Oder täuscht der Eindruck, dass von der deutschen Vereinigung in diesem Jahr, in dem sie zwanzig Jahre zurückliegt, nur noch eine Kurzfassung übrig geblieben ist? Etwa so: 9. November 1989, der Mauerfall, und die friedliche Revolution als das große historische Ereignis, der 3. Oktober 1990, die deutsche Einheit, als administrativer Schlussakt, dazwischen ein paar Ereignisse, an die man sich nur mit Mühe erinnert – die Wahlen im Osten, die Einführung der DM, eine Handvoll Verträge. Dabei hat sich in dieser kurzen Zeitspanne, in diesem „deutschen Jahr“ – wie es der Diplomat Claus J. Duisberg genannt hat - ein beispielloser Prozess vollzogen. Es ist die praktische Herstellung der deutschen Einheit – alles andere als ein Selbstläufer, vielmehr das Resultat von gewagten Entscheidungen, schwierigen Auseinandersetzungen und unglaublichen Zufällen.

Ziemlich aus dem Blick geraten ist zum Beispiel, dass dieses deutsche Jahr keineswegs nur ein deutsches war. Die internationale diplomatische Maschine arbeitete auf Hochtouren. Ein halbes Dutzend internationaler Konferenzen war erforderlich, um das Ende der deutschen Teilung, die zugleich eine europäische war, umzusetzen in eine neue Ordnung. Die Weichen, gewiss, waren im Frühjahr 1990 gestellt, aber über den ganzen Sommer 1990 dauerte der Zwei-plus-vier-Prozess der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und der beiden deutschen Staaten, der die deutsche Einheit nach außen absicherte. Und noch in der Nacht vor der Unterzeichnung am 12. September glaubte ein besorgter Außenminister Genscher seinen amerikanischen Kollegen Baker aus dem Bett holen zu müssen, weil er ein Scheitern in letzter Minute befürchtete.

Ohnedies hatten die Deutschen eine schmerzliche Erfahrung zu verkraften: Nun, wo die deutsche Wiedervereinigung möglich erschien, war bei den westlichen Alliierten nur auf die Amerikaner wirklich Verlass. Dagegen entdeckten die anderen, vor allem die englische Premierministerin Margaret Thatcher, aber auch der große Deutschenfreund Francois Mitterrand, mit einem Male ihre Vorbehalte. Und dabei hatten die Deutschen doch geglaubt, mit Westwendung und Vergangenheitsbewältigung die Schatten von gestern gebannt zu haben! Auch in dieser Hinsicht bewegte sich die Vereinigung also auf dünnem Eis.

Auf der sowjetischen Seite zeigte sich der sowjetische Parteichef Gorbatschow zwar als ein generöser Staatsmann, der sich beherzt von der imperialen sowjetischen Nachkriegspolitik löste. Doch wurde immer offenkundiger, dass er rapide an Unterstützung im eigenen Lande verlor. Zumindest die neue, demokratische DDR-Regierung lebte ständig in der Furcht, die Zustimmung der Sowjetunion zur Einheit könne kippen. Weshalb der neue Ministerpräsident de Maizière im Mai 1990, als er in Moskau mit den Sowjets verhandelte, eine russischsprechende Mitarbeiterin aussandte, um die Stimmung der Bevölkerung zu testen. Sie kam zurück mit alarmierenden Eindrücken: die Russen sagten, Stalin habe den Zweiten Weltkrieg gewonnen, Gorbatschow sei dabei ihn zu verlieren. Sie hieß übrigens Angela Merkel, damals stellvertretende Regierungssprecherin.

Noch erstaunlicher ist das Kapitel, das die neue Regierung und das sie tragende Parlament, die Volkskammer, im Sommer vor zwanzig Jahren in die Geschichtsbücher schrieben. Denn obwohl sie und ihre Tätigkeit ein unentbehrliches, ja, vielleicht sogar ein entscheidendes Glied im Vereinigungsprozess bildet, ist ihre Rolle im kollektiven Gedächtnis merkwürdig unterbelichtet geblieben. Gewiss, da trat keine Heroenmannschaft an, sondern eine denkbar gemischte Truppe, und gegen Ende löste sie sich in internen Zerwürfnissen auf. Aber bei den Feiern zur Deutschen Einheit könne man fast den Eindruck gewinnen, so merkt der Ostdeutsche Ed Stuhler bitter an, „als habe sich die Bundesrepublik mit sich selbst vereinigt“.

Dabei zeigt die Collage der Interviews, mit denen der Autor diesen Prozess dokumentiert, eine beeindruckende Geschichte, die fast ein Reißer wäre, wenn sie nicht knöcheltief in den Mühen des Ringens mit einer widerspenstigen Realität watete (Ed Stuhler, Die letzten Monate der DDR. Die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit. Ch.Links Verlag, Berlin). Überhaupt ist die Situation dieser Regierung unvergleichlich: Hochgestimmt, weil endlich in der Lage, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen, aber immer nahe am Abgrund von Staatspleite und der Auflösung der Strukturen der Gesellschaft. Eine Gemengelage von Aufbrüchen und Einbrüchen, von beglückender Spontaneität und bedrängender Labilität, von sprunghaften Veränderungen und dem Gefühl der Bodenlosigkeit.

Atemlos, immer unter Zeitdruck stehend, arbeiten sich die Treuhänder der Herbstrevolution an der desaströsen Lage ab, die ihr der Zusammenbruch des SED-System hinterlassen hat. Das zivile Leben muss aufrechterhalten, Gehälter gezahlt, der Betrieb von Krankenhäusern und Verkehrseinrichtungen gesichert werden – und das alles inmitten einer aufgewühlten, verunsicherten Bevölkerung, die außerdem erfasst war von dem mächtigen Sog, nun endlich an den Wohltaten des Westens teilzuhaben. Zugleich muss diese Regierung – und will es –, den Weg aus dem Staats-Konkurs planieren. Die neue, demokratische DDR soll in Form gebracht werden für den Beitritt zur Bundesrepublik – im Wettlauf mit dem Zerfall des alten Systems, der Übersiedlung nach Westen und der Drohung des wirtschaftlichen Kollabierens.

Die neue Regierung und die Volkskammer retten sich in eine gewaltige Aktivität: 164 Gesetze, drei Staatsverträge mit der Bundesrepublik, dazu Erklärungen wie jene, in der sie sich zur Mitverantwortung der DDR für die jüngste Geschichte bekennt – der sich die SED immer entzogen hatte –, das alles in den rund 200 Tagen zwischen der Konstituierung des Parlaments am 5. April und seiner Auflösung am 2. Oktober. Vorbereitet ist darauf so gut wie keiner der Akteure. Wenn die Parlamentspräsidentin berichtet, sie habe am Vortag der Amtsübernahme ihren Arztkittel ausgezogen, dann ist das keine gefällige Umschreibung, sondern schlichte Wirklichkeit.

Und so geht es allen, den Pfarrern und Dissidenten, die plötzlich Außen- und Verteidigungsminister sind, den Ingenieuren und Physikern und den niedrigen Rängen aus dem kommunalen Hinterland der Blockparteien, die Minister, Staatssekretäre und Parlamentarier werden. An dem Wort von den Laienspielern, das auf sie gemünzt wurde, ist nur ärgerlich, das es herabwürdigend gemeint war.

Die Fallhöhe dieses Prozesses wird spürbar in historischen Pointen, die ein Hauch von Groteske umflattert. Wenn der neue Ministerpräsident wichtige Staatsdokumente von der abgetretenen DDR-Regierung übernimmt, so quittiert er sie gut bürokratisch – freilich mit einem „ziemlich merkwürdigen Gefühl“ – auf Karteikarten, auf denen die Namen der alten DDR-Größen stehen: Stoph, Sindermann, Modrow. Und Verteidigungsminister Eppelmann, zu DDR-Zeiten Bausoldat, steht mit seiner zerknautschten Prinz-Heinrich-Mütze als Vorgesetzter vor den ordenbehängten, nach preußischem Muster getrimmten NVA-Offizieren. Überhaupt muss man sich klarmachen, dass diese Regierung mit einem in real-sozialistischer Wolle gefärbten Apparat zu arbeiten hatte. Dessen Kraft war zwar gebrochen, aber er existierte noch immer – bis hin zu den Sicherheitsleuten, Fahrern und Sekretärinnen.

Dieses halbe Jahr ist erfüllt von dem Versuch, die große Umkehr als halbwegs schonenden Übergang zu bewältigen. Oder handelte es sich doch um eine Auslieferung der DDR an den Westen? War die Regierung de Maizière keine Übergangs- sondern eine „Übergaberegierung“, wie ausgerechnet Hans Modrow befindet, der mit seinen deutschlandpolitischen Vorstellungen gescheiterte ehemalige DDR-Ministerpräsident?

Tatsächlich ist richtig, dass im Einigungsprozess die Bundesrepublik – je länger, desto mehr – das Übergewicht bekommt. Bald sind überall auch die Hilfstruppen aus den westdeutschen Verwaltungen tätig. Aber wie hätte die neue Regierung eigentlich ohne diese Berater den Übergang aus der Welt des Real-Sozialismus in einen demokratischen Rechts- und Verwaltungsstaat bewerkstelligen sollen?

Und die Bonner Verhandlungsdelegation, die fast auf den Tag genau vor zwanzig Jahren, am 6. Juli 1990, nach Berlin reiste, um im Stadthaus, dem damaligen Sitz des Ministerrats, die Verhandlungen über den Einigungsvertrag zu beginnen, war eher verblüfft über das Auftreten der DDR-Delegation. Denn die schlug einen entschiedenen Ton an und erhob Forderungen, die den westdeutschen Beamten unrealistisch erschienen. Nicht zuletzt erstaunte und verstimmte de Maizière die Bonner mit der Erklärung, dass Berlin als Hauptstadt und Regierungssitz für die DDR-Seite unabdingbar sei. Denn in der Bundesrepublik tobte zu dieser Zeit bereits der Streit, ob die alte deutsche Hauptstadt auch die neue werden solle – und zwar durchaus noch mit einem Übergewicht für Bonn.

Die Bonner Wahrnehmung der DDR-Regierung spiegelt sich vielleicht am besten in dem Urteil von Wolfgang Schäuble. Der damalige Innenminister, der die Bonner Delegation anführte, habe den DDR-Gegenübern immer wieder sagen müssen: „Liebe Leute, es handelt sich um einen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, nicht um die umgekehrte Veranstaltung. Wir haben ein gutes Grundgesetz, das sich bewährt hat. Wir tun alles für euch. Ihr seid herzlich willkommen. Wir wollen nicht kaltschnäuzig über eure Wünsche und Interessen hinweggehen. Aber hier findet nicht die Vereinigung zweier gleicher Staaten statt.“

Tatsächlich blieb von den Anfangsvorstellungen der DDR-Seite am Ende nicht allzu viel übrig: Das Bestehen auf der Hauptstadt Berlin und pragmatische Vereinbarungen wie die Anerkennung von DDR-Berufsabschlüssen und -Berufstätigkeit. Doch gelang es der DDR-Regierung, die scharfe Kurve von der DDR zur Bundesrepublik mit Leitplanken zu versehen. Die innere Situation der DDR hielt fast bis zu ihrem staatlichen Ende, auch wenn die Auflösungserscheinungen rapide zunahmen. Überdies zeigte sich, dass das Dilemma beide Seiten betraf: Immer wieder wurde deutlich – wie de Maizière trocken kommentiert –, dass es in der Bundesrepublik zwar ein Ministerium für innerdeutsche Fragen gab, aber „leider keins für gesamtdeutsche Antworten“.

Gewiss gehört es zu dem paradoxen Charakter dieser politischen Periode, dass die DDR-Regierung von Anfang an entschlossen war, sich selbst überfällig zu machen. Dieses Ziel ist hat sie offenbar so nachhaltig erreicht, dass auch die Erinnerung an diesen historischen Vorgang gleichsam durch den Rost gefallen ist. Und es passt dazu, dass von den Männern und Frauen, die damals auf der Bühne erschienen und Geschichte machten, in der Bundesrepublik kaum eine Handvoll noch eine politische Spur gezogen hat.

Der Ministerpräsident zum Beispiel zog sich nach einem kurzen Gastspiel in Bonn in seine Anwaltskanzlei zurück. Einige der Akteure dieser Übergangszeit tauchten im Bundestags auf, aber nur wenige fassten dort wirklich Fuß – Ausnahmen sind Markus Meckel und Rainer Eppelmann, die Außen- und Verteidigungsminister. Regine Hildebrandt, die Arbeits- und Sozialministerin, und Hans-Joachim Meyer, der Minister für Wissenschaft und Bildung, wurden Landesminister. Die meisten fand man, kaum das die heroische Zeit vorbei war, im Zivilleben wieder, keineswegs auf besonders herausragenden Positionen – Professoren, Verbandsvertreter, Anwälte.

Es kann sein, dass die DDR-Regierung und die Volkskammer sich so wenig in der Erinnerung gehalten haben, weil sie sich nicht wirklich als Personal für Heldensagen eigneten. Aber die Männer und Frauen, denen doch das Verdienst zukommt, dass die DDR in die Bundesrepublik überführt wurde und die deutsche Einheit zustande kam, sind auch nicht mit Bundesverdienstkreuzen überschüttet worden. Erst 2008 beschloss der Bundestag, den Mitgliedern der freien DDR-Regierung eine Ehrenpension zu zahlen.

Das Wunder des Mauerfalls ist für die Deutschen zu einem glückhaften Besitz geworden. Wie daraus die Einheit gemacht wurde, in kürzester Zeit, vorbei an Abgründen und hinweg über Untiefen, ohne zu verunglücken: das hätte Anspruch darauf, als des Wunders zweiter Teil erinnert zu werden.

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