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Energiewende: Der nationale Sonderweg ist eine Illusion

Die deutsche Debatte über den Atomausstieg übersieht die starke Integration in den europäischen Energiebinnenmarkt, meint Oliver Geden. Denn dann würde klar, dass ein nationaler energiepolitischer Sonderweg kaum mehr möglich ist. 

Seit nunmehr drei Monaten dominieren Atomausstieg und Energiewende den politischen Diskurs in Deutschland. Angesichts der Tragweite nuklearer Risiken sowie der anstehenden Transformation der Energieversorgungsstruktur eine verständliche Debatte. Sie befremdet jedoch dadurch, dass die europäische Dimension des Vorhabens nur reflektiert wird, wenn sie zur eigenen politischen Positionierung passt. Die wenigen noch vernehmbaren Ausstiegsskeptiker verweisen gerne darauf, dass der schnelle deutsche Ausstieg nur um den Preis zunehmender Atomstrom-Importe aus Frankreich und Tschechien zu haben sei. Befürworter vermögen bereits eine Signalwirkung der Energiewende auf andere europäische Länder zu erkennen, insbesondere die Schweiz und Italien. Beide Positionen lassen sich weder eindeutig be- noch widerlegen.

Was jedoch nicht thematisiert wird, ist die bereits bestehende, starke Integration Deutschlands in den europäischen Energiebinnenmarkt und die Tatsache, dass viele energie-, beziehungsweise klimapolitische Rahmensetzungen auf EU-Ebene erfolgen. Nimmt man diese Fakten stärker in den Blick, erscheint die kaum hinterfragte Annahme, ein nationaler energiepolitischer Sonderweg sei überhaupt möglich, mehr als fragwürdig. Drei Beispiele zur Illustration:  

Erstens: Versorgungssicherheit wird über Europa gewährleistet

Erdgas gilt – neben den Erneuerbaren – als der große Gewinner des deutschen Atomausstiegs. Es verursacht im Vergleich der fossilen Energieträger geringe CO2-Emissionen, neue Gaskraftwerke lassen sich relativ schnell errichten und im Betrieb flexibel hoch- und herunterfahren. Die Warnungen (häufig aus konkurrierenden Energiebranchen), Deutschland werde sich noch abhängiger von Gasimporten machen, sind dabei irreführend. Zwar werden knapp 90 Prozent des in Deutschland verbrauchten Erdgases importiert.

Doch diese Einfuhren stammen zum größten Teil aus den Niederlanden, beziehungsweise aus Norwegen, und somit aus dem nicht eben als unsicher geltenden Europäischen Wirtschaftsraum. Wem der Anteil der Gaslieferungen aus Russland mit zuletzt 35 Prozent zu hoch sein sollte, dem bleibt nur die Suche nach neuen Lieferanten. Die in diesem Zusammenhang häufig erhobene Forderung nach einem deutschen Terminal für verflüssigtes Erdgas (LNG) in Wilhelmshaven ist im wesentlichen Symbolpolitik.

In einem vernetzten europäischen Gasbinnenmarkt ist es für deutsche Gasverbraucher nicht wichtig, ob Deutschland über „eigene“ LNG-Terminals verfügt. Für die Versorgungssicherheit ist nur relevant, ob zu den Terminals im europäischen Ausland ausreichende Pipeline-Verbindungen bestehen und etwaige Handelsbarrieren beseitigt sind. Generell gilt: Je mehr Vernetzung und Koordination im innereuropäischen Markt, desto mehr Diversifizierung und Versorgungssicherheit. In einem vollendeten EU-Energiebinnenmarkt wird nationale Energieaußenpolitik obsolet.

Zweitens: Der Konsum von Atomstrom lässt sich nicht verbieten

Deutschland kann und wird die Produktion von Atomstrom auf eigenem Territorium mittelfristig unterbinden. Den Konsum von Atomstrom aber kann man in Deutschland nicht verbieten, so lange einige unserer Nachbarländer weiter Nuklearenergie produzieren. Der stundenweise, grenzüberschreitende Austausch von Elektrizität ist im europäischen Strombinnenmarkt der Normalfall. Die exakte Nachverfolgung der Produktionsstätten der an den Strombörsen gehandelten Elektrizitätsmengen ist sehr aufwändig

Zudem existiert die Möglichkeit, fossilen und nuklearen Strom gegenüber den Endverbrauchern als „Grünstrom“ zu vermarkten, etwa durch Zukauf von sogenannten RECS-Zertifikaten aus norwegischen Wasserkraftwerken. Unterbinden ließe sich der Konsum von Atomstrom in Deutschland nur durch das Kappen der Leitungen ins Ausland, was volkswirtschaftlich unsinnig wäre und den effizienten Ausbau der fluktuierenden Erneuerbaren massiv behindern würde. Die Politik setzt deshalb richtigerweise auf den Ausbau grenzüberschreitender Stromleitungen.

Daraus folgt: Die Energiewende wird in Deutschland in den nächsten Dekaden nicht ohne Atomstrom vonstatten gehen! Die Höhe der Importe wird im Wesentlichen von der Entwicklung der Preisunterschiede zwischen nuklearem und nicht-nuklearem Strom an den europäischen Strombörsen abhängen.

Drittens: Das Erreichen der Klimaschutzziele regelt der europäische Markt

Aufgrund des nun notwendigen Ausbaus der fossilen Kraftwerkskapazitäten – neben Gas auch Kohle – wird auf deutschem Boden mehr CO2 ausgestoßen werden als geplant. Die Bundesregierung verweist darauf, dass sich an den nationalen klimapolitischen Zielvorgaben für 2020 (minus 40 Prozent der Treibhausgasemissionen verglichen mit 1990) trotz des Atomausstiegs nichts ändern werde. Diese Darstellung lässt außer acht, dass die primäre Regulierungshoheit für Treibhausgasemissionen bei der EU liegt.

Kraftwerke sind dem EU-Emissionshandel (ETS) unterworfen, in dessen Rahmen ab 2013 keine nationalen Ziele mehr existieren, sondern nur noch ein gesamteuropäisches. Die maximale Anzahl der Verschmutzungsrechte nimmt schrittweise ab. Werden nun in Deutschland neue Gas- und Kohlekraftwerke gebaut, so führt dies zwar zu einer Steigerung der Emissionen aus Deutschland, aber nicht zu einer Steigerung der Emissionen innerhalb der EU.

Denn die steigende Nachfrage an Verschmutzungsrechten durch deutsche Kraftwerksbetreiber treibt die Preise der an den europäischen Strombörsen gehandelten Zertifikate nach oben, was relativ emissionsintensive Kraftwerke in der EU letztlich unrentabel machen und aus dem Markt drängen wird.

Was die neuen Kohle- und Gaskraftwerke in Deutschland an zusätzlichen Emissionen verursachen, wird europaweit im Normalfall durch den Einsatz CO2–ärmerer Anlagen eingespart werden. Mehr Treibhausgasemissionen wird der deutsche Atomausstieg nur dann verursachen, wenn es vermehrt zu Kohlestromimporten aus Staaten käme, die nicht dem EU-Emissionshandel unterliegen (z.B. Ukraine). Die Bundesregierung hat darauf fast keinen Einfluss.

Wer mögliche Wirkungen des deutschen Atomausstiegs auf Energieflüsse und Emissionsmengen abschätzen will, muss über die nationalen Grenzen hinaus auf die europäische Ebene blicken. Die Komplexität der Regulierungssysteme führt zu einem spürbaren Verlust an Eindeutigkeiten, nicht eben ein Vorteil im Alltag nationaler politischer Auseinandersetzungen. Eines ist jedoch gewiss: Da die europäische Integration auf den Strom- und Gasmärkten noch lange nicht am Ziel angelangt ist, werden die Spielräume für nationale Steuerungsversuche in der Energiepolitik in den kommenden Jahren nicht größer werden, sondern deutlich geringer.

Oliver Geden forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik unter anderem zu Energie-, Klima- und Rohstoffstrategien der EU und ihrer Mitglieder. Die SWP berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Beitrag erscheint auf der SWP-Homepage unter der Rubrik „Kurz gesagt“.

Oliver Geden

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