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Meinung: …England

über die besoffenen Eroberer der Welt Man diskutiert schon Jahre und ist der Lösung kein bisschen näher. Nun ist, beflügelt vom Sommerloch und der Gutachtensammlung „Verantwortliches Trinken“, die Debatte mit neuer Leidenschaft entbrannt: ob oder warum die Briten zu jenem zivilisierten Trinken unfähig sind, das zum Inventar des kontinentaleuropäischen Soziallebens gehört.

über die besoffenen Eroberer der Welt Man diskutiert schon Jahre und ist der Lösung kein bisschen näher. Nun ist, beflügelt vom Sommerloch und der Gutachtensammlung „Verantwortliches Trinken“, die Debatte mit neuer Leidenschaft entbrannt: ob oder warum die Briten zu jenem zivilisierten Trinken unfähig sind, das zum Inventar des kontinentaleuropäischen Soziallebens gehört.

Neidvoll blickte Toskana-Liebhaber Tony Blair auf italienische Straßencafés, wo man den Chianti nur zur Pasta trinkt, oder französische Cafés, wo nächtelang beim Pastis philosophiert wird, und meinte, so was Zivilisiertes müsse doch auch auf der Insel möglich sein. Weshalb ab 24. November die notorischen Pub-Schließzeiten abgeschafft werden. Wenn der Druck fehle, schnell vor „Closing Time“ noch ein paar Pints zu kippen, könne auch England die Wege des gesitteteren Alkoholkonsums beschreiten. So die Theorie.

„Wahnsinn“, schrieb Richter Harris in seinem Gutachten, und die „Times“ druckte es ab. Die Situation sei grotesk genug; die Alkoholzeiten zu verlängern, hieße, Großbritanniens Stadtzentren Nacht für Nacht den betrunkenen, kotzenden und urinierenden Raufbolden zu überlassen. „Alkohol schafft Gesetzlosigkeit, mehr Alkohol schafft mehr Gesetzlosigkeit“, folgerte Harris messerscharf. Kontinentales Trinken erfordere eben kontinentale Trinker, nicht englische Kampftrinker, „die in überfüllten Pubs Gallonen von Bier in sich hineinschütten“. Mit Ausnahme der nicht in die Ferien verreisten Minister stimmten von den Bischöfen bis zur Polizei alle zu.

Nun wird wieder über die Gründe der „britischen Krankheit“ gestritten, wie Blair sie nannte. Die Jugend habe Geld, aber keine Lebensideale, argumentieren die Soziologen. Anthropologen glauben, dass es in den Genen liegt. Schon 1066 wurden die Briten von den erobernden Normannen als Trunkenbolde eingestuft. Historiker wissen, dass Trinken während der Puritanerherrschaft im 17. Jahrhundert ein Zeichen von Königstreue war, und erinnern an die Londoner Krawalle nach der Erhöhung der Gin-Steuer 1743. Eingeführt wurde die „Closing Time“ im Ersten Weltkrieg, offenbar der einzige Weg, die Arbeiter in den Munitionsfabriken nüchtern zu halten. „Wir Briten“, schrieb „Times“-Leser Jerry Maher aus Brentwood, „werden eben kriegerisch und übermütig, nicht entspannt und friedlich, wenn wir betrunken sind. Deshalb haben wir uns auch das Weltreich zusammenerobert.“

Ab November wissen wir mehr. Dann beginnt eines der interessantesten Sozialexperimente der neueren britischen Geschichte – es sei denn, das Gesetz über das kontinentale Trinken wird in letzter Minute doch noch gekippt.

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