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Meinung: Entgleistes Ritual

Von Caroline Fetscher

W ach sein, aufmerksamer als alle anderen: Darum geht es den AntiAtom-Demonstranten. Genau darum geht es auch den Sicherheitskräften, die neben den Transporten mit strahlendem Nuklearmüll fahren, fliegen, reiten, wie ein Tross hochgerüsteter Jedi-Ritter. Von La Haye bis Gorleben. Heroisch treten zwei Seiten gegeneinander an. Die einen, weil sie forciert gegen Regeln verstoßen oder sogar Gesetze brechen wollen. Die anderen, weil sie das, notfalls „avec force“, verhindern wollen. So hat der seit Jahren trainierte Symbolkampf um die Castor-Transporte seine rituelle Komponente gewonnen.

Mit dem Tod eines womöglich zu risikobereiten Demonstranten, der auf den Schienen von einem Atommüllzug überrollt wurde, hat dieses Ritual seine Unschuld verloren. Auch wenn die Aktivisten und Apokalyptiker womöglich Recht haben, und wenn es stimmt, dass radioaktiver Abfall eine kaum schätzbare Last für kommende Generationen bedeutet, und sogar manche Fachleute zum selben Urteil kommen – ihr Leben verlieren wollen Demonstranten nicht, wenn sie sich in der Kälte an den Schienen festketten. Sie rechnen eben doch auf die Sorgfalt der Polizeikräfte im Einsatz.

Mit der physischen Präsenz am „Tatort Atomtransport“ suchen die Demonstranten das Augenmerk der Öffentlichkeit. Nicht den Tod. Denn den dürfen auch die Initiatoren und Organisatoren eines solchen Protestes nicht mitverantworten und auf sich laden. Wie sollen sie den Eltern eines getöteten Aktivisten begegnen? Eben so entsetzlich ist das für die Polizei. Jetzt müssen beide Seiten des Castor-Rituals genau ermitteln, wie das passieren konnte, was in Frankreich geschah. Wo die Lücken in ihrem System lagen. Und schlimmer noch: Was außerdem geschehen könnte? Wenn ein Zug voll Atommüll so aus den Augen und aus dem Gleis geraten kann, was für ein Signal an der Strecke sendet der unglückliche Vorfall dann an andere Störer, gewaltbereitere, solche, die den Tod im Kalkül haben – den eigenen und den anderer?

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