zum Hauptinhalt

Essay: Der Mensch ist kein Vermögensgegenstand

Wie ein Kartenhaus ist die virtuelle Finanzwelt zusammengekracht: Das Kapital wird nur im Bündnis mit der Arbeit eine Zukunft haben, schreibt Norbert Blüm in seinem Essay für den Tagesspiegel.

Über Jahrtausende war das Wetter und was sich darüber sagen lässt, einer der wenigen Gesprächsstoffe, der alle interessierte. Von Hitze und Kälte, Dürre und Flut, Hagel, Schnee, Donner und Blitzen etc. hingen schließlich die Chancen für das Überleben ab.

In der Wohlstandsgesellschaft, die sich weitgehend vom existenziellen Überlebenskampf abgenabelt hat, hat sich nun zum Wetter ein anderes Thema gesellt, das eine vergleichbare Aufmerksamkeit beansprucht. Es ist die Börse. Morgens beim Aufstehen, abends vor dem Zubettgehen, mittags beim Mittagessen, immer und überall drängen sich mir auf allen Kanälen die Börsennachrichten auf, obwohl ich sie gar nicht ständig hören will. Die Börsennachrichten haben inzwischen die Penetranz der Wetternachrichten und des Verkehrsfunks erreicht. Sie kommen zu jeder Tages- und Nachtzeit, und selbst die abendliche Fernseh-Tagesschau wird von ihnen eingerahmt.

Mit einer Art von medialer Gehirnwäsche soll offenbar eine Gesellschaft installiert werden, in der es nur noch um Wirtschaft und Vorteilsuche geht.

Der Leithammel dieser Gesinnung ist der „homo oeconomicus“. Dieser ist ein ökonomisierter Homunkulus, also eine Kunstfigur, die es so reinrassig in der Realität gar nicht gibt, aber an dem dennoch die neue globale Gesellschaftsordnung Maß nehmen soll.

Der homo calculator

Der homo oeconomicus ist bei Licht betrachtet ein homo calculator. Er verbringt sein Leben damit, alles daraufhin zu überprüfen, was sich aus der jeweiligen Sache herausholen lässt. Rund um die Uhr ist der homo oeconomicus auf seinen Vorteil bedacht und mit der Kosten-Nutzen-Analyse beschäftigt. Seine neurotische Rechentätigkeit setzt schon bei der Verrichtung alltäglicher Aufgaben ein. Als Schnäppchenjäger hat er eine gewisse Popularität erreicht. Doch dieser Job ist eminent anstrengend. Er lässt für nichts anderes mehr Zeit als für Rendite. Der Rendite-Typ ist inzwischen auch zu Ehren des Nobelpreises gekommen. Cary S. Becker erhielt 1992 die akademische Anerkennung „für seine Verdienste um die Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf einen breiten Bereich des menschlichen Verhaltens“. Becker hatte den wirtschaftlichen Nutzen zur anthropologischen Grundkategorie erhoben. Das Nobelpreiskomitee hat den ökonomischen Totalitarismus also heilig gesprochen.

Die zwanghafte Vorteilssuche begleitet uns in allen Lebenslagen. Wer mit der Deutschen Bahn verreisen will, muss viel Aufwand betreiben, den billigsten Preis zu ermitteln. Zuerst ist es ratsam zu klären, wann ist der günstigste Termin zur Buchung, beispielsweise wie viele Stunden vor der Abfahrt. Das kann preisentscheidend sein. Dann: Welche Strecke nehme ich am besten und mit welchem Zug, mit IC oder ICE oder Regionalbahn? Wo buche ich? Am Automaten, am Schalter, im Reisebüro oder im Internet? Der Preis hängt nicht allein an Strecke, Bahntyp, Klasse, sondern auch davon, wo die Fahrkarte gekauft wird. Welche Sonderfahrten und Sonderkonditionen gibt es? Für wen, mit wem, wann, wohin, weshalb, wozu, wie? Der Einfallsreichtum für verwickelte Preiskonstellationen und -konditionen kennt offenbar keine Grenzen. Bahnchef Hartmut Mehdorn ist inzwischen zu einem Synonym für eine neue Form von „Preisrätsel“ geworden. Es fehlt in seinem Sortiment nur noch eine kostenlose Rückfahrkarte, die vor der Hinfahrt genutzt werden muss. Dann wäre die Preisverwirrung endlich perfekt.

Das gleiche Verwirrspiel setzt sich bei der Altersversorgung fort. Die Produkte sind so vielfältig, kompliziert und mit Fallen versehen, dass selbst Fachleute sie nicht mehr durchschauen.

Die Kreativität der kopflosen Hühner

Krankenversicherung, Stromversorgung und Gas, es ist überall das Gleiche: Nur ständige Preisvergleiche und permanente Wechselbereitschaft lassen die Hoffnung, ein „Schnäppchen“ zu erwischen, wachsen. Wer zudem noch vor dem Kauf von „allerhand“ das Internet zum Renditevergleich nutzt, ist zwar auf der Höhe der Zeit, hat aber keine ruhige Minute mehr. „Die Zeiten verlangen von uns buchstäblich, wie ein kopfloses Huhn herumzurennen. Und gleichzeitig fordern sie von uns Kreativität, die normalerweise das Ergebnis von Reflexionen und persönlichem Wachstum ist“, stellt Tom Peters, Erfinder der Ich-AG, fest. „Entweder dies oder das? Nein: Machen Sie beides“, ist seine Devise. Kopflos mit Köpfchen, das ist die neue Lebensmaxime. Rückwärts vorwärts und im Kreise geradeaus gehen ist das Kunststück, das verlangt wird. Aber es kommt noch schlimmer: Die Nutzenmaximierer richten die Vorteilssuche zu guter Letzt gegen das eigene Subjekt und verwandeln so sich selbst zum Renditeobjekt. Ein Finanzanalytiker (in der „FAZ“ vom 19. Januar 2002) empfahl „den Menschen als einen Vermögensgegenstand wie jeden anderen, wie Bargeld, Immobilien oder Aktien zu betrachten und mit den Mitteln der Portfolia-Analyse ihren Wert so wie den ihrer Familie zu berechnen und zur Grundlage einer rationalen Lebensführung zu machen“. Da haben wir es: Die Ich-AG nebst ihren familiären Filialen ist ein Anlageobjekt. So ist der Mensch endlich zwar nicht auf den Hund ge-, sondern zum Kapital verkommen.

Nachdem die Gesellschaft so abgerichtet ist, dass jeder jederzeit und überall sein Schnäppchen sucht, werden ausgerechnet die Dressurexperten zu Spielverderbern, indem sie empfehlen, nur Geschäfte abzuschließen, die man durchschaut. Dabei war doch das ganze Zockermaterial inklusive Derivate auf „attraktive Undurchscheinbarkeit“ aufgebaut.

Die Komplikateure haben mit ihren Komplikationen inzwischen dicke Geschäfte gemacht. Jetzt verrät Hilmar Kopper, Ex-Deutsche- Bank-Chef, er habe immer für sich nur konservative Anlageformen gewählt. Die Gier der Anleger („die den Hals nicht voll kriegen“) sei schuld an risikoreichen Renditenangeboten. Das sagt einer, dessen Bank wegen des Renditeziels 25 Prozent 5000 Arbeitsplätze opferte. „Selbst schuld, wer auf uns reinfällt“, ist die Quintessenz der Kopper’schen Logik.

Was für ein Glück, dass Beethoven schon seine Neunte komponiert, Leonardo da Vinci die Mona Lisa bereits gemalt und Goethe seine schönste Liebeslyrik gedichtet hatte, bevor die ersten Schnäppchenjäger auf die Jagd gingen. Sie, die Großen unserer Kultur, hätten es allesamt gegen die Nutzenfundamentalisten schwer gehabt.

Gott sei Dank gibt es auf der Erde viele Dinge jenseits von Angebot und Nachfrage, die unser Leben „reicher“ machen. Es gibt Sehnsüchte, deren Erfüllung nichts kostet und die dennoch wertvoll sind. Der Mensch ist nicht nur Kunde und Konsument.

Die Finanzkrise ist in Wirklichkeit eine Kulturkrise

Der homo oeconomicus, für den nur der Nutzen zählt, ist das Spitzenprodukt einer verblödeten Wirtschaftsgesellschaft, und die gegenwärtige Finanzkrise ist in Wirklichkeit eine Kulturkrise. „Sage mir, was für ein Menschenbild du hast, und ich werde dir sagen, welches gesellschaftliche Ordnungsbild du hast“, erklärte einst der altersweise Oskar von Nell-Breuning SJ. Die Gesellschaft des homo oeconomicus ist jedenfalls eine Horde habsüchtiger Egoisten.

Die neoliberalen Mäuse laufen inzwischen auf dem Tisch herum, nachdem die sozialistische Katze verschwunden ist. „Verstaatlichen oder privatisieren“, „alles oder nichts“: Das ist die bornierte Alternative von Kapitalismus oder Kommunismus.

Die großen Herren der Bankenwelt benehmen sich, als seien sie die neuen Besitzer der Globalisierung. Hans Tietmeyer, der ehemalige Bundesbankpräsident, schwadronierte 1996 auf dem Davoser Wirtschaftsgipfel vor den versammelten Politikern: „Sie sind jetzt alle der Kontrolle des internationalen Finanzmarktes unterworfen.“ Und die Politiker klatschten – man höre und staune – auch noch Beifall bei ihrer Degradierung zu Bankgehilfen. Rolf Breuer, der ehemalige Deutsche-Bank-Chef, war in ökonomischer Hybris kaum noch zu übertreffen. „Die autonomen Entscheidungen der Hunderttausenden von Anlegern auf den Finanzmärkten werden im Gegensatz zu den Wahlentscheidungen nicht alle vier bis fünf Jahre, sondern täglich gefällt.“ Die Wirtschaft als Modell für die Gesellschaft? Was ist von dieser Selbstüberschätzung der Finanzgenies noch übrig geblieben? Heiße Luft und ein penetranter Gestank, der nach Borniertheit riecht.

Marx- und Markt-Fundamentalisten haben abgewirtschaftet

Die Marx- und Markt-Fundamentalisten haben abgewirtschaftet. Die Letzteren wissen es nur noch nicht. Doch sie haben bereits mit dem Ausverkauf ihres ideologischen Tafelsilbers begonnen. Die Helden der Deregulierung schreien nach dem staatlichen Rettungsanker. Hochmut kommt vor dem Fall! Das Kartenhaus einer virtuellen Finanzwelt ist zusammengekracht.

Der Mensch ist von seiner Grundausstattung kein homo oeconomicus. Er kommt nicht ohne Vertrauen, Anerkennung und Würde aus. Das alles hat keinen Preis und geht in keine Kostenrechnung ein.

Im Grunde geht es um eine Restitution der Würde der Arbeit. Kapital ist ein Mittel, die Arbeit jedoch „ein Gut des Menschen für sein Menschsein“ (Johannes Paul II.). Das Realprinzip Arbeit und damit Wertschöpfung und Produktion realer Güter und Dienstleistungen ist der Kern jeder soliden Wirtschaftsordnung. Das wusste auch der „Erfinder“ der Marktwirtschaft, Adam Smith. „Arbeit ist die Quelle des Wohlstandes der Völker“, ist die Kernthese seines Hauptwerkes.

Eine Gesellschaftsordnung, die um ein bodenloses Finanzkapital kreist, hat den Menschen aus dem Blick verloren. Ankerlos vagabundiert ein in der Produktionssphäre überschüssig gewordenes Finanzkapital um die Welt und destruiert die reale Wirtschaft. Der Finanzmarkt hat sich von den Realitäten entfernt und hat sich in ein reines Überbauprodukt verflüchtigt. Er haust in virtuellen Höhen, gespeist aus Marketing und Arroganz, Gehirnwäsche und abgebrühter Gerissenheit. Gesucht wird der Rückweg zu den Substanzwerten und weg von den Illusionsblasen eines Finanzmarktes, der sich von der realen Arbeit emanzipiert hat.

Das Problem der Finanzblasen wurde bisher immer nur gelöst, indem eine große Blase durch eine noch größere abgelöst wurde, die Internet-Blase zum Beispiel durch die Hypotheken- Blase. Jetzt ist den „Bläsern“ die Luft ausgegangen.

Die Chance für den Mittelstand

Das Kapital wird nur im Bündnis mit der Arbeit eine Zukunft haben. Das ist die Chance für den Mittelstand, in dem der Zusammenhang zwischen Arbeit und Eigentum nie verloren war. Das unterscheidet ihn von einem um den Globus vagabundierenden Finanzkapital.

Die modischen Imitate der Neoliberalen trennt vom Original, denen sie den Namen geklaut haben, so viel wie den ehrlichen Kaufmann vom Hochstapler. „Man hatte übersehen, dass die Marktwirtschaft nur einen engen Bezirk des gesellschaftlichen Lebens ausmacht, der von einem weiteren umrahmt und gehalten wird.“ Das stammt von einem Vordenker der echten Neoliberalen, nämlich von Wilhelm Röpke, und das haben die „neuen“ Neoliberalen leider vergessen. Wie die Marxisten sind sie hoffnungslose Materialisten.

Der Autor war von 1982 bis 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false