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Essay: Der Zar ist nackt!

In zwei Wochen wählen die Russen einen neuen Präsidenten. Es wird wohl der Vorgänger des alten sein. Doch Medwedew ist eine politische Leiche, und selbst Putin steht schlecht da. Eine Reise bis in die sibirische Taiga wirft ein erhellendes Licht auf das Riesenreich.

Vor ziemlich genau zwei Jahren stolperte ich in einer russischen Zeitung über eine seltsame Meldung. Die Überschrift lautete: „Altgläubige Einsiedlerin näht Hemd für Präsident Medwedew“. Staunend las ich von einer religiösen Eremitin, die isoliert in der tiefsten sibirischen Taiga lebt. Besuch, schrieb die Zeitung, bekomme die 65-Jährige nur einmal im Jahr: Ein Beamter der regionalen Verwaltung versorge sie per Hubschrauber mit Grundnahrungsmitteln. Bei einer dieser seltenen Begegnungen, hieß es, habe der Beamte der Einsiedlerin von den Verdiensten des russischen Staatsoberhaupts berichtet. Sie habe „tief bewegt“ zugehört – und ihrem Besucher bei der nächsten Begegnung ein eigenhändig genähtes Hemd überreicht, mit der Bitte, es dem Präsidenten zukommen zu lassen.

Die Geschichte machte mich ein bisschen stutzig. Die sogenannten „Altgläubigen“, zu denen die Einsiedlerin zählt, haben es nicht so mit der Politik. Viel wichtiger ist für sie bis heute die Frage, ob das orthodoxe Kreuzzeichen korrekterweise mit zwei oder mit drei Fingern zu schlagen ist – das nämlich war der zentrale Streitpunkt, der ihre Vorfahren im 17. Jahrhundert dazu trieb, sich von der Moskauer Patriarchatskirche abzuspalten. Als verfolgte Minderheit lebten sie fortan in dünn besiedelten Randgebieten des Russischen Reichs und warteten auf die Apokalypse, woran sich bis heute nicht viel geändert hat. Warum, fragte ich mich, sollte eine weltflüchtige Sektiererin ein Hemd für den Präsidenten nähen? Die Frau hatte nun wirklich andere Probleme.

Ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Es war nicht ganz einfach, aber nach einer Reise, die fast ein Jahr in Anspruch nahm, stieß ich tief in der sibirischen Taiga auf die Lösung des Rätsels. Warum ich das hier erzähle? Weil die Geschichte mit dem Präsidentenhemd auf eine verquere Art bezeichnend ist für die politische Sackgasse, in der heute, kurz vor den Präsidentschaftswahlen am 4. März, ganz Russland steckt.

Aber der Reihe nach.

Im Februar 2010, als meine Reise begann, waren die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen noch weit entfernt. Niemand sprach über sie. Überhaupt redete kaum jemand, der mir westlich und östlich des Urals begegnete, von sich aus über Politik. Wenn ich das Thema gezielt anschnitt, wurde es meist weggewischt wie eine lästige Fliege: Bitte nicht! Der Grund war keineswegs Angst, sondern schlicht Desinteresse. Die Leute hatten andere Probleme.

Jedenfalls glaubten sie das. Sie klagten über die allgegenwärtige Korruption, über Vorteilsnahme und Vetternwirtschaft, über den desolaten Zustand der Straßen, der Krankenhäuser, der Schulen, über bestechliche Beamte, Professoren, Lehrer, Ärzte, Verkehrspolizisten und Richter.

Alles politische Probleme, sollte man meinen. Politisch bedingt, politisch lösbar. Dieser Ansicht aber stimmte selten jemand zu. Die allgemeine Bescheißerei wurde als etwas fast Schicksalhaftes hingenommen, etwas, das so tief in der Gesellschaft verwurzelt ist, dass es sich auf politischem Wege nicht beseitigen lässt. Wenn wir diese Gauner abwählen, bekam ich oft zu hören, dann übernehmen nur andere Gauner das Ruder – womöglich schlimmere. Manchmal kam es mir vor, als sei der Grund für die allgemeine Resignation eine Art gesamtgesellschaftliches Misstrauen, geboren aus der eigenen Verstrickung: Wie soll man anderen vertrauen, wenn man selbst täglich Schmiergelder zahlt, wenn man, sofern man im öffentlichen Sektor arbeitet, auch selbst welche kassiert, obwohl man privat der liebenswerteste Mensch ist? Anders, hieß es, kann man in Russland nicht leben.

Dass man innerhalb der politischen Klasse auf die gleiche Art von Zynismus stößt, überrascht nicht. Ich habe mehrere Mitglieder der Kreml-Partei „Einiges Russland“ kennengelernt, die sich explizit als „unpolitisch“ bezeichneten. Man tritt dieser Partei nicht aus ideologischer Nähe bei, sondern aus Karrieregründen, aus finanziellem Interesse oder einfach nur, weil es alle tun. Im Grunde ist sie keine politische Gemeinschaft Gleichgesinnter, sondern eine disparate Lobby für Staatsbedienstete und andere Aufstiegswillige des öffentlichen Bereichs, ein Club der Karrieristen.

Genau so verhielt sie sich denn auch bei den Parlamentswahlen im vergangenen Dezember. Auf ihren begehrten Listenplätzen tauchten Namen auf, die mit allem Möglichen in Verbindung zu bringen sind, nur nicht mit Politik: Sportler, Schauspieler, Geschäftsleute, Freunde von Freunden, Verwandte von Bekannten. Wahl hin oder her, all diesen liebenswerten Menschen waren nun einmal Parlamentssitze versprochen worden. Und so nahm das große Bescheißen seinen Lauf.

Das bekannte Ergebnis war ein politisches Desaster: Trotz massiver Fälschungen schrammte die Kreml-Partei nur knapp am Verlust der absoluten Mehrheit vorbei, seit Wochen demonstrieren Hunderttausende in den Straßen von Moskau bis Wladiwostok, Medwedew ist eine politische Leiche, und selbst Putin, dessen Umfragewerten bislang kein Skandal etwas anhaben konnte, steht zwei Wochen vor den Präsidentschaftswahlen schlecht da wie nie. Scheinbar ohne jede Not hat er seine als ausgemacht geltende Rückkehr ins Amt des Staatsoberhaupts gefährdet. Warum nur?

Hier nun kommt das Präsidentenhemd ins Spiel. Wie ich im Spätsommer 2010 in der Taiga herausfand, gibt es das Hemd tatsächlich. Genäht hat es wirklich die Einsiedlerin. Bloß nicht für den Präsidenten. Es war ein Geschenk für den Beamten, der ihr einmal im Jahr Lebensmittel bringt.

Wie das Hemd beim Präsidenten landete, ist leicht zu erraten. Überreicht wurde es Medwedew im Februar 2010 vom Gouverneur der sibirischen Region Kemerowo, der just zu dieser Zeit um seine Bestätigung im Amt bangte – die russischen Regionalchefs werden, seit Putin die Gouverneurswahlen abgeschafft hat, per Präsidentendekret eingesetzt. Als kleine, rührende Aufmerksamkeit für den Chef in Moskau kam das Hemd da offenbar sehr gelegen.

Wie das Hemd wiederum dem Gouverneur in die Hände gefallen ist, begriff ich erst, als ich den Mann persönlich danach fragte. Ein paar Monate nach seiner geglückten Wiederernennung durch Medwedew empfing er mich in seinem Büro in Kemerowo. Das Hemd, versicherte er mir, sei wirklich ein Geschenk der Einsiedlerin für den Präsidenten gewesen. Ich nehme an, dass er das auch tatsächlich glaubt. Ausgedacht hat sich die Geschichte vermutlich ein Untergebener, der sich die Gunst des Gouverneurs sichern wollte – vermutlich jener kleine Beamte, für den das Hemd ursprünglich bestimmt war. Den Mann habe ich leider nicht kennengelernt. Ich weiß nur, dass er recht breitschultrig sein muss, denn das Hemd, von dem ich ein Foto sah, ist Medwedew erkennbar ein paar Nummern zu groß.

Was lernt man nun aus dieser kleinen Betrugsgeschichte, die sich der große Gogol nicht besser hätte ausdenken können?

Zunächst einmal, dass in Russland nicht nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben beschissen wird. Genau das ist Putins Problem. Das System, auf dem seine Herrschaft fußt, gehorcht Gesetzen, die er längst nicht mehr unter Kontrolle hat. Selbst wenn er es wollte, wäre er nicht in der Lage, Wahlfälschungen zu verhindern. Entsprechend hilflos wirken seine Versuche, die kommende Präsidentschaftswahl in ein besseres Licht zu rücken, etwa durch Internetkameras in den Wahllokalen. Ein Präsidentschaftskandidat, der seine Untergebenen anweist, ihn unter allen Umständen an die Macht zu bringen, aber bitte auf ehrliche Art und Weise, ist lächerlich. Er ordnet an, nicht nur die Wähler, sondern ihn selbst zu bescheißen. Seine Höflinge sollen ihm nicht nur ein Hemd klauen, sie sollen auch noch so tun, als passe es ihm.

Nie stand der Zar so nackt da. Vielleicht ist es also gar kein Wunder, dass sich derzeit gerade jene Russen gegen ihn wenden, die bis vor ein paar Monaten mehr an Stilfragen als an Politik interessiert waren: die jungen, gut ausgebildeten, finanziell unabhängigen Großstädter, die nicht im Staatsdienst arbeiten, sondern für privat geführte Unternehmen.

Als meine Reise 2010 begann, lernte ich diese Bevölkerungsgruppe als die mehr oder weniger einzige in Russland kennen, die sich der allgemeinen Korruption entzieht – weil sie es sich leisten kann. Gleichzeitig war es auch die Gruppe mit dem vehementesten Desinteresse an Politik. Umso überraschter war ich, als nach der Wahl im vergangenen Dezember die ersten Facebook-Einladungen zu Demonstrationen zirkulierten und meine Moskauer Freunde anfingen, sich gegenseitig im Formulieren ironischer Plakatlosungen zu überbieten („Ich habe diese Gauner nicht gewählt – ich habe andere Gauner gewählt!“).

Politik war plötzlich hip. Und zum ersten Mal schien sie hippe Menschen etwas anzugehen. Wahlfälschungen hatte es auch vorher schon gegeben, auch ihr Ausmaß war bekannt. Neu aber war die Dreistigkeit, mit der gefälscht wurde, die Unverfrorenheit, mit der man das Wahlvolk zu Idioten erklärte. Selbst überzeugte Nichtwähler konnten jetzt nur noch schlecht darüber hinwegsehen, dass der Zar, den man ihnen da unterjubelte, sein Hemd nicht ausfüllte.

Heute, zwei Monate nach Beginn der stetig anschwellenden Proteste, zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl, stehen sich das entblößte Regime und seine modischen Opponenten erschreckend ratlos gegenüber.

Auf der einen Seite: Putin, der nicht den Hauch einer Idee erkennen lässt, wie mit der veränderten Lage umzugehen wäre. Stur spielt er seine alte Rolle: überheblich, unantastbar, siegesgewiss. Sicher, er wird die Wahl gewinnen, möglicherweise schon im ersten Wahlgang, vielleicht sogar ohne eklatante, sondern nur mit „normaler Korruption“, wie es sein Wahlkampfleiter kürzlich offenherzig formulierte. Zum Status quo aber wird er nicht zurückkehren können, dafür ist sein Nimbus zu angeknackst. Ob er es will oder nicht, er wird eine Rolle einnehmen müssen, in der man ihn bisher nicht erlebt hat: die des schwachen Präsidenten. Nach allem, was man von ihm weiß, ist es eine Rolle, mit der er nicht gut zurechtkommen wird.

Auf der anderen Seite: eine wackelige Opposition, der langsam dämmert, dass sie weder konsensfähige Führungsfiguren noch inneren Zusammenhalt noch konkrete Ziele hat, die sich kurzfristig durchsetzen ließen – und der für langfristiges Engagement möglicherweise der Atem fehlt. „Wir wollten Eiscreme für alle, und zwar sofort“, schrieb mir neulich ein Moskauer Freund. „Daraus wird wohl nichts.“

Dem einen oder anderen unter den neu erwachten Oppositionellen dürfte inzwischen sogar dämmern, dass die zwangsverpflichteten Gegendemonstranten, die das Regime neuerdings zu Zehntausenden aufmarschieren lässt, eine politische Kraft sind, mit der zu rechnen ist – nicht obwohl, sondern gerade weil diese Putin-Demonstranten käuflich sind. Das nämlich ist die traurigste Erkenntnis der letzten Wochen: Solange das Gros der russischen Bevölkerung bereit ist, die allseitige Betrügerei mitzutragen, wird es in Russland keinen Wandel geben – weder von oben noch von unten.

Als ich am Ende meiner Reise in der Taiga ankam, begriff die Einsiedlerin nicht, worauf ich mit der Hemdengeschichte hinauswollte. Der Präsident? War das der Mann, der ihr alle paar Jahre die Volkszählungsbeamten auf den Hals hetzte, vor denen sie sich immer im Wald versteckte, weil nur Gott das Recht hat, seine Kreaturen zu zählen?

Genau der, sagte ich.

Der Einsiedlerin fiel zu Medwedew nicht viel ein. Erst nach einigem Nachdenken erinnerte sie sich an ein Porträtfoto, das der Regionalbeamte ihr beim letzten Besuch als Geschenk mitgebracht hatte. Aufgehängt hatte sie es natürlich nicht – an den Wänden ihrer Hütte hingen nur Ikonen. Sie wusste nicht einmal mehr genau, wo sie das Foto hingelegt hatte. Nach langem Suchen fand sie es schließlich in einem Haufen Gerümpel neben dem Ziegenstall, eingewickelt in eine halb verrottete Plastiktüte. Das gerahmte Bild stank nach Ziegenpisse, und der Präsident sah nicht glücklich aus.

- Jens Mühling ist Mitarbeiter der Sonntagsredaktion des Tagesspiegels. Sein Buch "Mein russisches Abenteuer" erscheint am 14. März bei Dumont.

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