zum Hauptinhalt
Religion ist, abgesehen von Kirchtürmen und Moscheen, kaum noch präsent. Die Gesellschaft wird zunehmend säkularer und die Säkularen zunehmend aggressiver, meint unser Autor.

© p-a

Essay: Die Nicht-Religiösen werden aggressiver

Deutschland debattiert nach dem Beschneidungsurteil, was schwerer wiegt, das Kindeswohl oder die Religionsfreiheit. Dahinter steht ein Konflikt, der noch tiefer greift: die Auseinandersetzung zwischen Säkularisten und Religiösen.

Der Ton wird rauer. Das Wort „Kulturkampf“ ist bereits mehrfach gefallen. Die Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern des Kölner Urteils zur Beschneidung nimmt eine Schärfe an, die befürchten lässt, es drohe eine Art geistiger Bürgerkrieg. Die politische Kultur in den USA bietet für viele das abschreckende Beispiel einer solchen zerrissenen Gesellschaft, in der sich ein säkulares und ein religiöses Lager gegenüberstehen, die sich gegenseitig verachten und mit Misstrauen und Abscheu begegnen. Daher gilt es in der aktuellen deutschen Debatte, den Anfängen zu wehren und angesichts einer unguten Überhitzung kühlen Kopf zu bewahren.

Das Kölner Urteil, das ohne Zweifel rechtsstaatliche Prinzipien klar und stimmig anwendet, wird in der politischen Bewertung von manchen als Einstieg in eine Kampagne genutzt, die den religiösen Sumpf nun endlich trockenlegen will. Was hier beobachtet werden kann, ist der Übergang von der Verteidigung säkularen Rechts zu einer aggressiven säkularistischen Ideologie.

Der Unterschied zwischen säkular und säkularistisch mag sprachlich fein sein, in der Sache trennen ihn Welten, wie der kanadische Philosoph Charles Taylor herausgestellt hat. Während die sozialwissenschaftliche Auffassung von der Säkularisierung die Hypothese formuliert, dass die moderne Welt faktisch immer religionsloser werde, fordert der Säkularismus, dass sie es werden soll.

Anders gesagt, Vertreter der klassischen Säkularisierungsthese glauben, dass die Religion aus der modernen Gesellschaft verschwinden wird. Anhänger des Säkularismus fordern und befördern dieses Verschwinden aktiv. Das Kölner Urteil kann daher für Säkularisten erst der Anfang sein, alle religiösen Praktiken, die sie grundsätzlich für gefährlich, krankhaft oder mindestens lächerlich halten, einzudämmen und aus dem öffentlichen Raum zu verbannen.

Thomas M. Schmidt unterrichtet Religionsphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und ist zur Zeit Fellow am Max-Weber-Kolleg in Erfurt.
Thomas M. Schmidt unterrichtet Religionsphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und ist zur Zeit Fellow am Max-Weber-Kolleg in Erfurt.

© privat

Ein solcher militanter Säkularismus schießt über das Ziel hinaus und droht selbst lächerlich zu werden. Denn wo liegen die Grenzen einer paternalistischen Deutung von Unversehrtheit, wenn schon ein medizinischer Eingriff inkriminiert wird, der bei drei Viertel der männlichen Bewohner der USA aus rein hygienischen Gründen vorgenommen wird? Wird jetzt als Nächstes das Stechen von Ohrlöchern bei Minderjährigen verboten?

Und wenn wir schon einmal dabei sind: Sollte man nicht gegen die immer mehr um sich greifende Verbreitung von Tattoos einschreiten, die bei der EM so deutlich zutage getreten ist? Sind diese von Kopf bis Fuß bemalten Erwachsenen wirklich mündig? Sind sie im Vollbesitz ihres ästhetischen Urteilsvermögens oder sollte der Staat hier nicht einschreiten und diese Individuen vor sich selbst schützen – und die schweigende Mehrheit in ihrem gesunden Geschmacksempfinden?

Müsste nicht nach der Logik des Urteils auch die Taufe verboten werden?

Gegen diese Lesart, die im Kölner Urteil die übergriffige Bevormundung des Staates sehen will, betonen die Befürworter, dass es gar nicht um die Art des Eingriffes geht, sondern um das unverzichtbare Moment der informierten und freien Zustimmung, die allein einen solchen Akt rechtfertigen kann. Auch ein an sich sinnvoller, notwendiger und dringender medizinischer Eingriff bleibt ohne Zustimmung ein Akt der Körperverletzung.

Eine Handlung, von der andere Menschen betroffen sind, ist immer nur dann moralisch und rechtlich legitim, wenn die Betroffenen mit guten Gründen zustimmen können. Wo Menschen ohne faktische Zustimmung der Betroffenen entscheiden müssen – wenn etwa Eltern stellvertretend für ihre Kinder handeln –, dürfen wenigstens keine Entscheidungen getroffen werden, die unumkehrbar in die natürliche Ausstattung eingreifen.

Dies ist übrigens auch ein wichtiges und richtiges Argument gegen eine sogenannte liberale Eugenik, die es Eltern erlauben würde, in die genetische Ausstattung ihrer Kinder einzugreifen.

Aber wo liegen die Grenzen dieses Prinzips? Soll als Nächstes die Taufe von Kindern verboten werden? Denn wenn das eigentliche Argument lautet, dass vor allem jene Eingriffe begründungspflichtig sind, die unumkehrbar sind und bleibende Spuren hinterlassen, dann lässt sich fragen, welche Entscheidung, die den Lebenslauf und die Identität eines Menschen maßgeblich bestimmen, von anderen Menschen, von Eltern, Erziehern und Lehrern überhaupt noch getroffen werden darf.

Sind körperliche Eingriffe wirklich immer tiefgreifender und bleibender als seelische? Würde die Wahl der Augenfarbe eines Kindes tatsächlich einen tieferen Eingriff in seine Identität darstellen als die Entscheidung, in welchem Land das Kind aufwächst, welche Sprache zu Hause gesprochen wird, ob das Kind lernt, sich gesund zu ernähren, ob es in einem Haushalt aufwächst, in dem man noch weiß, was ein Buch ist, und so fort.

Der Staat hält sich hier mit guten Gründen zurück und erlaubt eine große Bandbreite von Weltanschauungen und Lebensstilen. Diese kluge Zurückhaltung kann aber einen Grundkonflikt nicht verhindern, der für Gesellschaften unvermeidbar ist, deren zentralen Wert die Freiheit darstellt. Die Freiheit des Einzelnen, die in der Tat das alles entscheidende und unverzichtbare Prinzip moralischer Bewertung ist, stellt eine Medaille mit zwei Seiten dar. Auf der einen Seite steht Autonomie, das Prinzip der Selbstgesetzgebung, das unbedingte Achtung erfordert.

Menschen sind freie Subjekte, niemand darf zum Objekt von Fremdbestimmung gemacht werden. Dieses Recht kommt jedem Individuum in gleichem Maße zu. Es ist die Verpflichtung staatlicher Gewalt, dieses Recht vor Übergriffen und Missachtung zu schützen.

Auf der anderen Seite der Freiheitsmedaille steht Authentizität, das Streben danach, ein Leben zu führen, das Bedeutung und tiefen Gehalt besitzt, das das Individuum aus der Masse heraushebt und kein Leben von der Stange ist. Nach wie vor gehört für viele Menschen in diesem Land die Zugehörigkeit zu religiösen Traditionen und Gemeinschaften zu jenen Quellen, aus denen sich ein solches bedeutungsvolles Leben speist, dessen Inhalt sich nicht in Geldverdienen und -ausgeben erschöpft.

Der Konflikt zwischen säkularem Recht und Religion, zwischen den Ansprüchen eines freiheitlichen Staates und religiösen Traditionen besteht deshalb nicht nur in der Frage, wem man mehr gehorchen soll, der religiösen oder der weltlichen Autorität, Gott oder dem Kaiser. Dieser Konflikt hat auch eine horizontale Dimension. Hier kollidieren die zwei Aspekte der innerweltlichen Freiheit, das Prinzip der Autonomie und das Recht auf Authentizität. Wie schon in Sophokles’ „Antigone“ ist dieser Streit zwischen Glauben und Staatsräson ein Grundkonflikt, der nicht durch Verträge und Anordnungen aus der Welt zu schaffen ist, sondern stets auf der Kippe steht, in eine Tragödie zu münden.

Diese Spannung zwischen Autonomie und Authentizität im Herzen des modernen Freiheitsbegriffs hat der Frankfurter Philosoph Christoph Menke in seiner Studie zur „Tragödie im Sittlichen“, die an die gleichnamige Vorstellung aus Hegels politischer Philosophie anschließt, herausgearbeitet.

In der gegenwärtigen Debatte besteht überhaupt kein Sinn für diese Dimension des Konflikts. Grund genug also für alle, denen an einem kooperativen und fairen Miteinander religiöser und säkularer Bürger liegt, nervös zu werden. Wer in einer Gesellschaft leben möchte, in der die säkularen Prinzipien des Rechtsstaates genauso eindeutigen Respekt genießen wie religiöse Praktiken und Traditionen und diese als wertvoller Beitrag zum gesellschaftlichen Leben geschätzt werden, den kann der Streit nicht kaltlassen.

Die Debatte um Religion und Gesellschaft wird stets mit der Migrationsfrage verknüpft - zu unrecht

Das Miteinander zwischen religiösen und säkularen Bürgern muss offenbar neu verhandelt werden. Das bisher gültige Staatskirchenrecht, das den Kirchen in gesellschaftlichen Fragen Mitsprache und Einfluss garantiert, leidet schon lange an einem schleichenden Verlust an Plausibilität. Dieser Prozess wird seit einigen Jahren enorm beschleunigt.

Als Folge der Wiedervereinigung ist der Anteil von Atheisten und Konfessionslosen rasant gestiegen. Auch sind viele engagierte Christen aus der ehemaligen DDR skeptisch gegenüber einer Kirche, die mit dem Staat gemeinsame Sache macht. Hinzu kommt der immer stärker ins Bewusstsein drängende Islam, der verdeutlicht, dass das Verhältnis von Religion und Politik nicht allein durch Staatsverträge mit den christlichen Kirchen geregelt werden kann. Wie im Fall des Kölner Urteils wird dabei auffällig häufig übersehen, dass auch das Judentum mit einem neuen Selbstbewusstsein und einem erstarkten Gemeindeleben einen wichtiger werdenden Beitrag zum neuen religiösen Pluralismus in Deutschland leistet.

Vieles kommt also ins Rutschen. Dabei ist es erneut die Aufgabe der rechtlichen Regelung muslimischer Glaubenspraktiken, welche die grundsätzliche Frage aufwirft, wie es diese Gesellschaft mit der Religion im Ganzen halten will.

Dass solche Probleme immer mit der Migrationsfrage verknüpft werden und auf diesem Weg mit der Daueraufgabe der Gesellschaft, ihre Veränderung zur Kenntnis zu nehmen, ist nur eine Ursache für das Agendasetting durch den Islam. Diese Fokussierung spiegelt auch die Verbürgerlichung des Christentums, das sich für die einzig aufgeklärte und demokratiekompatible monotheistische Religion hält. Dies ist nicht nur hochmütig, sondern überdeckt auch eine Saft- und Kraftlosigkeit, die nicht zuletzt aus einer Vergessenheit der Leibhaftigkeit von Religion entsteht und aus der Fixierung auf Lehrsätze, Bekenntnisse und Bildungsprogramme. Judentum und Islam erinnern ausgerechnet das Christentum, die Religion der Inkarnation, an seine Fleischvergessenheit. Gott ist nicht ein bloßes Kopfprodukt, ein Gegenstand von reiner Lehre und Rechtfertigung. Religion hat ihren Sitz im wirklichen, gelebten Leben, in Praktiken, Ritualen, in Haltungen.

Haltungen sind, wie der Name sagt, nicht nur Einstellungen zu diesem und jenem, sondern ganz grundsätzlich etwas Körperliches. Eine Haltung verrät, wo und wie wir stehen, ob wir aufrecht sind oder uns ducken. Eine Haltung verrät, ob uns etwas in Fleisch und Blut übergegangen ist. Judentum und Islam erinnern das Christentum an diese Körperlichkeit, sie erinnern daran, dass authentischer Glaube einschneidend ist. Glaube hinterlässt Spuren.

Aber auch in der säkularen Rechtskultur macht sich die Rückkehr der verdrängten Leiblichkeit bemerkbar. Die Rede von der Sakralität der Person, die Betonung ihrer Unantastbarkeit, ist ein zentrales Prinzip des modernen Menschenrechtsgedankens, wie der Soziologe und Philosoph Hans Joas nachgewiesen hat. Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit der Person, diese Grundbegriffe zeigen, dass auch das säkulare Recht nicht ohne körperliche Metaphern auskommt. Gegner und Befürworter des Kölner Beschneidungsurteils sind deshalb so ineinander verkeilt, weil sie ahnen, dass sie in ihren Widersprüchen auf gemeinsamem Boden stehen.

Es ist das nur undeutlich vorhandene Bewusstsein, dass die moderne liberale Rechtskultur und die gebildete Religion gleichermaßen leibhaftig werden müssen, wenn sie unser Leben bestimmen wollen. Denn auch die rechtlichen Sanktionen des säkularen Staates müssen in letzter Instanz einschneidend sein, wenn sie wirksam sein wollen, die Strafe des Rechts kann nicht restlos in sanfte Therapie überführt werden.

Säkulares Recht und religiöse Tradition stehen also gemeinsam vor der Frage, wie viel Leiblichkeit wir aushalten können, um das aufrechtzuerhalten, was uns wertvoll erscheint. Weil Religion und Recht einschneidend sind, wenn sie nicht belanglos bleiben, werden auch die Konflikte zwischen ihnen stets schmerzhaft sein. Dieser Schmerz kann nicht dauerhaft betäubt werden durch antiseptische formaljuristische Arrangements, weil wir hier zwar Handlungen erfolgreich reglementieren, aber den anderen in einer irritierenden Fremdheit nicht mehr spüren.

Genauso wenig darf sich der Konflikt zwischen säkularem Recht und Religion zur rechthaberischen Raserei steigern, in der einer wütend auf den anderen eindrischt und dabei doch nur das eigene Spiegelbild zertrümmert. Was auf dem Spiel steht, ist die Frage nach einem zivilen Zusammenleben angesichts der unvermeidlichen Konflikte der pluralistischen Gesellschaft, ein Zusammenleben, das die Extreme von kultureller Einförmigkeit und geistigem Bürgerkrieg vermeidet.

Der Autor unterrichtet Religionsphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main und ist zur Zeit Fellow am Max-Weber-Kolleg in Erfurt.

Zur Startseite