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Meinung: EU-Gipfel: Leitartikel: Brandts Erbe

Ist das der gleiche Gerhard Schröder? Der sich von Helmut Kohls Pathos absetzen wollte und rasch als geschichtsvergessen galt?

Ist das der gleiche Gerhard Schröder? Der sich von Helmut Kohls Pathos absetzen wollte und rasch als geschichtsvergessen galt? Jetzt bemächtigt sich auch dieser Kanzler der historischen Symbolik: Sein Weg zum Gipfel der Europäischen Union in Nizza führt über Polen. Vor 30 Jahren unterzeichnete Willy Brandt den Warschauer Vertrag, die Bundesrepublik erkannte die Oder-Neiße-Grenze an. Warschau im Dezember 1970: Es war die emotionalste Etappe der Brandtschen Ostpolitik. Auch wegen des Kniefalls am Getto-Denkmal, der für eine ganze Generation Deutscher zu der Geste des Aussöhnungswillens wurde.

Nun ist der EU-Gipfel nicht nur einer für Symbole. In Nizza soll die Reform der Institutionen den Weg freimachen für die Öffnung und Erweiterung nach Osten. Polen ist der größte Beitrittskandidat, der entscheidende neue Baustein für ein Europa, zu dem auch die Länder zählen, die bis 1989 jenseits des Eisernen Vorhangs lagen. Eine Vision wird wahr.

Mit einem neuen Schröder? Oder ist er doch der alte, dem es mehr um den Effekt als um die Substanz geht und der dafür mehr als früher auf seine Berater hört, die seine Außenpolitik historisch aufladen möchten. Jedenfalls lässt der letzte der "Enkel" diese Deutung verbreiten: Mit seiner Reiseroute folgt er Willy Brandt. Und wäre das nicht eine diplomatische Meisterleistung, wenn es dem Kanzler Schröder gelänge, Brandts Vermächtnis in Nizza zu beschwören - angesichts der Streitigkeiten um Kommissionssitze und Stimmengewichtung. Diese Machtspiele lassen manche bereits fürchten, die EU-Reform werde scheitern. Europa muss hart über das Kleingedruckte verhandeln, aber es darf darüber das Große nicht aus dem Auge verlieren.

Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört, hat Willy Brandt nach dem Fall der Berliner Mauer gesagt. Hieß es nicht immer, deutsche Einheit und europäische Einheit seien zwei Seiten derselben Medaille? So wie Wolfgang Schäuble und Günther Krause 1990 mit Sinn für Würde und Details die Bedingungen der deutschen Einheit aushandelten - so müssen nun in Nizza Interessen austariert und Hindernisse beiseite geräumt werden. Und das ist komplizierter, weil nicht nur zwei Partner ihre Wünsche durchsetzen wollen, sondern mehr als zwanzig Staaten in der Europäischen Union zusammenfinden sollen.

Gewiss, in Nizza steht noch nicht der ganze europäische Einigungsvertrag auf der Tagesordnung, sondern nur ein Teil. Der Osten sitzt nicht mit am Tisch, die Belange der Kandidaten werden seit Frühjahr 1998 in getrennten Beitrittsgesprächen verhandelt. Und der dritte Teil, das Verhältnis der EU zu den Mitgliedsstaaten und Regionen, die Kompetenzaufteilung zwischen ihnen sowie der Verfassungsvertrag, wird erst 2004 besprochen, auf der nächsten großen Regierungskonferenz.

Auf diesem Gipfel muss aber endlich deutlich werden, dass das Zusammenwachsen Europas von allen Seiten Zugeständnisse verlangt. Nicht nur von denen draußen vor der Tür - auch von denen, die schon drinnen sind. Bisher wurden vor allem die Kandidaten auf ihre Beitrittsfähigkeit geprüft. Das war der Anspruch: Ihr im Osten müsst euch ändern, euch anpassen, wir im Westen sind schon lange so weit. Und wir bestimmen die Regeln. Nizza nun wird zur Probe für die Aufnahmefähigkeit. Scheitert die Erweiterung, weil der Westen nicht fähig ist zur Reform?

Willy Brandt wird in Warschau geehrt, ein zentraler Platz nach ihm benannt. Das ist gut. Besser ist es, wenn Schröder Brandts Geist nicht in Warschau zurücklässt. Denn in diesem Geist muss in Nizza Brandts Ostpolitik vollendet werden.

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