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Merkel gilt in Europa noch immer als einflussreiche Führungsfigur.

© dpa

Eurokrise: Warum Merkel Europa weiter helfen sollte

Auch wenn es noch so schwerfällt, Angela Merkel sollte bei ihrer Linie bleiben, Europa zu helfen. Im eigenen Interesse. Die Geschichte wird denen nicht verzeihen, die in der schlimmsten Stunde Nachkriegseuropas ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind.

Die Märkte haben immer recht, was immer die Börse sagt. Das ist so richtig, wie zwei mal zwei gleich vier ist, also nicht sehr erhellend. Interessanter ist der ironische Spruch des Nobel-Ökonomen Paul Samuelson: "Der Aktienmarkt hat neun der letzten fünf Rezessionen vorausgesagt." Das heißt, dass P wie Panik zum Markt gehört wie die Kürzel Dax und DJIA zur deutschen beziehungsweise amerikanischen Börse.

Die Panik begann am Wochenende und tobte am Wochenbeginn weiter. Warum eigentlich? Weil der Beelzebub Standard & Poor’s die Bonität der USA von AAA auf AA+ herabgedrückt hatte, also von 24 auf 23 Karat. Die Märkte ließ es seltsamerweise kalt. Statt einen Risikozuschlag für US-Treasuries zu fordern, gewährten sie leicht fallende Zinsen – verkehrte Welt.

Hatte die Schuldenlast der USA die Panik ausgelöst? Die liegt bei 90 Prozent der Wirtschaftsleistung – nichts im Vergleich zu den 225 Prozent der Japaner (deren Yen steigt) oder den 120 Prozent der Italiener. Und kaum mehr als die 85-Prozent-Schuldenquote Frankreichs oder die 83 Prozent Deutschlands. S&P meckert, aber US-Bonds bleiben ein sicherer Hafen, obwohl sie fast keine Rendite bringen.

Wahlkampf! Vor Januar 2013 können wir von den USA nichts mehr erwarten

Warum also P wie Panik? Aus zwei Gründen, die beide mehr im Politischen als im Ökonomischen wurzeln. Der eine: Die Zauberlehrlinge in den Rating-Agenturen, die jetzt den von ihnen angerichteten Scherbenhaufen bestaunen, hatten ja nicht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der USA runtergeschrieben, sondern die politische. Kein Wunder auch: Nach wochenlangen Gefechten am Abgrund der Regierungspleite zogen Obama und Opposition nur ein räudiges Kaninchen aus dem Hut – gerade mal Einsparungen von einer Billion statt der gewollten vier. Das Verdikt lautete deshalb zu Recht: Politikversagen! Und die bösen Märkte folgerten ebenfalls zu Recht: In diesem Sommer hat der Wahlkampf begonnen; vor Januar 2013 können wir von Washington nichts mehr erwarten.

Der zweite Grund: Die Politik hat ihr Pulver verschossen. Wenn ein Zehn-Prozent-Defizit – also Keynes en gros – nur ein mickriges Wachstum von zuletzt 1,3 Prozent in den USA bringt (und ansonsten nur Megaschulden), was hülfe dann noch eine weitere Konjunkturspritze? Was brächte sie den Wirtschaften von Frankreich und Italien, die schon vor dem Crash von 2008 stagnierten? Welchen Wert hätte eine weitere Liquiditäts-Flut, wenn die Zentralbanken der USA und der Euro-Zone praktisch Null-Zinsen verlangen und die Welt im Geld ertrinkt?

Der kühle ökonomische Verstand sagt: "Keinen!" Die Politik aber kann sich eine solche Antwort nicht erlauben. Das rosige Szenario sieht so aus: Die jüngste Hilfsaktion für Griechenland (109 Milliarden Euro) verschafft Athen wenigstens eine Atempause. Im nächsten Juli kommt der europäische Schutzschirm im Wert von 800 Milliarden. Notfalls muss die Summe verdoppelt werden. Nächste Offensive: Euroland gibt Euro-Bonds heraus, die es den Krisenländern erlauben, sich billigere Kredite zu verschaffen und der Pleite zu entrinnen. So gewinnt Euroland Zeit, Reformen greifen, alles wird irgendwie wieder gut.

Die reale Politik warnt indes, dass all diese Mechanismen von allen Euro-Ländern ratifiziert werden müssen. Das heißt, dass die Europäer mehr politischen Willen aufbringen müssten, als sie es bisher geschafft haben, von Obama und seinen republikanischen Quälgeistern ganz zu schweigen. Oder genauer: dass die stärkste, reichste und gesündeste Volkswirtschaft – die deutsche – die Führung und die Schatulle bereitstellt. "Le boche payera tout", höhnten die Franzosen nach dem Ersten Weltkrieg, die Rechnung zahlen die Deutschen. Damals haben die sich zu Recht gewehrt. Aber warum nicht heute einen großen Teil übernehmen, und zwar aus Eigeninteresse? Zerbricht der Euro, verkommen unsere Nachbarn, wird das deutsche Biotop nicht blühen. Die Folgekosten der europäischen Niederlage würden mörderisch sein.

Das heißt weiter, dass Berlin Resteuropa mit aller Kraft zusammenhält, aber auch, dass die Kanzlerin dem Volk immer wieder einhämmert, was auf dem Spiel steht – vorneweg für Deutschland selber. Die Geschichte wird denen nicht verzeihen, die in der schlimmsten Stunde Nachkriegseuropas ihrer Macht und Verantwortung nicht gerecht geworden sind.

Gewiss hat Angela Merkel nicht mehr die Aura, die sie vor zwei Jahren zur ungekrönten Monarchin Europas gemacht hatte. Aber sie ist nach wie vor eine strahlende Führungsfigur im Vergleich zur Konkurrenz. Und sie hat das Plus, das so vielen ihrer Kollegen von Frankreich bis Finnland fehlt. Es gibt rechts von der Union keine anti-europäischen Parteien, die für Renationalisierung und Alleingang fechten. Mit diesem Pfunde darf Merkel ruhig wuchern. So schwer kann es nicht sein, das Nützliche und das Gute zu verbinden, also die europäischen und die deutschen Interessen. Es fehlt bloß die große "Rede an die Nation". Immer wieder.

Zurück zur Gretchenfrage: Wie hält es die Politik mit den Märkten? Nein, sie kann die fundamentals, wie es im Wirtschaftsjargon heißt, nicht wegdrücken. Aber sie kann Zeichen setzen, Willen bekunden und Geld in die Hand nehmen – jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt. Wo ist dieser Punkt? Das wissen wir erst hinterher. Aber Agieren ist besser als Abwarten, und jetzt ist besser als später. Wer nicht kämpft, kann nur noch kapitulieren.

Quelle: www.zeit.de

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