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Meinung: Europa muss sich treu bleiben

Seit 1963 verspricht man der Türkei den EU-Beitritt – ein Rückzieher geht nicht mehr/Von Hans-Dietrich Genscher

Als die EG 1963 den Assoziierungsvertrag mit der Türkei schloss, bildeten in Deutschland CDU/CSU und FDP die Bundesregierung. Bundeskanzler war Konrad Adenauer, sein Stellvertreter Ludwig Erhard, die Vorsitzenden der Koalitionsparteien CSU und FDP hießen Erich Mende und Franz Josef Strauß. Man wird keinem von ihnen multikulturelle Schwärmerei vorwerfen können. Trotzdem stimmten sie dem Abkommen zu, in dessen Präambel es heißt, „dass die Hilfe, welche die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft dem türkischen Volk … zuteil werden lässt, später den Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft erleichtern würde.“ Und Artikel 28: „Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, dass die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.“

Es ging also nicht mehr um das „Ob“ des Beitritts, sondern um die Erfüllung der Beitrittsvoraussetzungen. Für den türkischen Beitrittswunsch muss deshalb auch der Grundsatz der Vertragstreue gelten.

Natürlich ist die Türkei nicht immer wieder vertröstet worden, wie manche meinen. Es lag an ihr selbst, dass sie über Jahrzehnte die Voraussetzungen für eine EUMitgliedschaft nicht erfüllte. Unrichtig ist es aber auch, wenn man die ernsthaften Anstrengungen der Türkei in jüngster Zeit leugnet, mit denen sie die Voraussetzungen einer Mitgliedschaft in der EU herbeiführen will.

Die im deutsch-französischen Vorschlag genannten Termine mit einer Evaluierung der türkischen Mitgliedsfähigkeit durch die Kommission begründen die Erwartung, dass die Türkei ihre Anstrengungen entschlossen fortsetzen wird. Der deutsch-französische Vorschlag eröffnet damit eine realistische Perspektive zur Einlösung der vor fast 40 Jahren gegebenen Zusage.

Der Prüfung der unverzichtbaren Beitrittskriterien muss sich die Türkei stellen. Das weiß man auch in Ankara. Aber man weiß dort auch, dass die Frage, ob die Türkei – prinzipiell betrachtet – Mitglied werden kann, schon 1963 mit Brief und Siegel positiv beantwortet wurde.

Ganz offensichtlich war 1963 das Selbstverständnis der Europäischen Gemeinschaft als einer Rechtsstaats- und Marktwirtschaftsgemeinschaft mit religiöser Offenheit bewusster, als das gelegentlich in der Diskussion heute erscheint. Wenn eingewandt wird, der Türkei fehle in ihrer Biographie die Aufklärung, so wirft das die Frage auf, ob diejenigen, die sich darauf berufen und die Entwicklung der Türkei im 20. Jahrhundert vergessen machen, sich nicht selbst vom Gedanken der Aufklärung entfernen.

Die EU als eine offene Gesellschaft beschädigt ihre Identität, wenn sie bei der Ablehnung des türkischen Beitritts offen oder versteckt auf den islamischen Glauben abhebt. Dass der Glaube kein Ausschlussgrund sein kann, haben die christlichen Kirchen ausdrücklich festgestellt. Schon jetzt gibt es fast zweieinhalb Millionen Türken in Deutschland – seit Jahrzehnten gleichbleibend – und mehr als 13 Millionen Moslems in der EU. Seit Jahrzehnten betrachten wir die Nato als Wertegemeinschaft. Dieser Nato gehört die Türkei an, ohne dass in der Vergangenheit dagegen kulturell argumentiert worden wäre.

Eine freiheitliche Demokratie und eine funktionierende marktwirtschaftliche Ordnung in einem islamischen Land würden eine beispielgebende Wirkung auf andere islamische Länder haben. Nicht länger gebraucht werden sollte das Argument, die Bundesregierung setze sich nur deshalb für den Beitritt der Türkei ein, weil die USA es wollten, und weil man auf diese Weise, die unbestreitbar im Wahlkampf im Umgang mit den USA gemachten Fehler kompensieren wolle.

Natürlich muss die EU ihre Entscheidungen frei von Einflüssen von außen treffen. Aber man sollte es für eine solche Entscheidung nicht als hinderlich ansehen, wenn man sich dabei in Übereinstimmung mit den USA befindet. Im Kern geht es darum, ob die EU sich selbst und ob sie dem Assoziierungsabkommen mit der Türkei treu bleibt.

Der Autor war von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister.

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