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Wunschkoalition? Angela Merkel und Sigmar Gabriel bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages.

© dpa

Europa und die Eurokrise: Deutschland führt uns aus der Krise

Europas Probleme werden dadurch gelöst, dass ein europäischeres Deutschland ein deutscheres Europa gestaltet, schreibt der niederländische Diplomat Marnix Krop in einem Gastbeitrag.

„The needle and the damage done“, sang Neil Young vor vierzig Jahren, ein bitteres Lied über Drogensucht und was diese angerichtet hat.

Der Euro war auch so eine Art Droge, gewiss, als er noch so erfolgreich schien. Die Euphorie kannte keine Grenzen und die Risiken blieben außerhalb des Blickwinkels, auch von denen, die dazu angestellt waren, die Dinge im Blick zu haben. Nun, vier Jahre nach der Eurokrise, kann man den Schaden überblicken. Aber auch den Gewinn, der erzielt worden ist und die Lehren, die daraus zu ziehen sind. Denn wenn es auch so scheint, als ob Europa diese Krise durchgestanden hätte, dieses Mal kann man aber nicht mehr zur Tagesroutine übergehen, als ob es keine Probleme gebe: Noch kein Business as usual.

Haben wir die Krise schon bewältigt, sind wir inzwischen im sicheren Hafen? Für solch eine  Beruhigung ist es noch zu früh, aber die Vorzeichen sind nicht unvorteilhaft. Auf jeden Fall haben wir die akute Krise hinter uns, ist auch Dank der EZB die Ruhe zwischen dem Euro und den Finanzmärkten wiederhergestellt, und haben wir den Plan für strukturelle Regeneration mehr oder weniger geschafft. Irland, Portugal und Spanien sind auf dem Weg, den Status als Problemland zu verlieren, auch Zypern und Griechenland machen Fortschritte, aber sie haben es leider noch nicht geschafft, während die großen Mitgliedstaaten, die problematisch aussahen, Italien und Frankreich, Vorbereitungen treffen um in ihren Etats und der Wirtschaft einige Dinge in Ordnung  zu bringen. Die Rezession ist vorbei, aber es folgt noch eine lange Periode der Behebung des angerichteten Schaden bei Schuldenpositionen, bei Etats, bei Banken und bei den wirtschaftlichen Bedingungen einer Wettbewerbswirtschaft – kurzum: für einen haltbaren Euro. Die EU hat einen existenziellen Augenblick durchgestanden, denn der politische Wille, um an der monetären Integration festzuhalten, erwies sich als viel stärker als die Verführung, die Flinte einfach ins Korn zu werfen. Der Euro ist in erster Instanz ein politisches Projekt, kein ökonomischer Versuch, den man beim erstbesten Rückschlag zum Sperrmüll gibt. Diese Lektion haben die Kommentatoren, die unzählige Male das Ende der Gemeinschaftswährung  vorhergesagt hatten, nun wohl gelernt. Die Euroländer auf jeden Fall.

Der Euro ist ein politisches Projekt

Der Euro ist eine Währung ohne Staat, im Prinzip also zum Scheitern verurteilt. Er ist mit vielen politischen Ambitionen an den Start gegangen, war aber vor allem ziemlich undurchdacht gestaltet. So sei es. Nun ist es an der Zeit, die Geburtsfehler zu beheben. Daran hat Europa die vergangenen Jahre gearbeitet: einen Fiskalpakt für das Verkleinern der Schuldenberge und das Zurückdrängen der Haushaltsdefizite, eine Bankenunion, um den brüchigen Bankensektor zu gesunden und dies nicht auf Kosten der Steuerzahler geschehen zu lassen und eine Wirtschaftsunion, um unsere Ökonomien aufeinander zuwachsen zu lassen und sie wehrhaft für die Konkurrenz auf dem Weltmarkt zu machen. Die Mitgliedsstaaten sind als Folge der Eurokrise viel mehr Verpflichtungen für einander eingegangen, als das vorher der Fall war. Das Ganze steht nun zum Vollzug bereit. Es ist nun an den Mitgliedsstaaten, alle diese schönen Dinge auf sich selbst anzuwenden. Aber anders als früher gibt es nun auch ein Knüppel-aus-dem-Sack: Die Europäische Kommission achtet darauf, dass das Abgesprochene nun auch befolgt wird und sie kann bei Nachlässigkeit wirksam eingreifen. Ohne Erfüllung der Bedingungen haben die Euroländer keinen Zugang zu dem Rettungsschirm ESM oder zum Ankauf von Staatsobligationen, die die EZB anwenden kann. Die Eurokrise hat zu einem europäischen Staat im Aufbau geführt. Das war auch nötig.

Ohne die Rolle Deutschlands wäre dies alles nicht gelungen. Was jedoch geschehen wäre, ist schwer vorauszusagen: wahrscheinlich eher sanfte Lösungen, sicherlich auch mehr leichtes Geld, dadurch vielleicht auch – unter dem Druck der Finanzmärkte – ein Zerfleddern der Eurozone. Wer kann das sagen? Deutschland, das Land, das am stärksten mit Europas Schicksal verbunden ist und daher das Ziel des Euros am stärksten vor Augen hat, hat am härtesten für den Euro gekämpft. Angela Merkel hat, mehr als jedweder europäische Politiker, die Bedeutung des Euro fest im Visier behalten. Sie wusste recht schnell, warum diese Gemeinschaftswährung gerettet werden musste und wie das am besten nachhaltig geschehen konnte: Der Europäische Rat war dafür ihre Arena. Auch wenn nicht alles nach ihrem Kopf ging, im Kern hat sie es verstanden, ihre europäischen Kollegen zu überzeugen. Im eigenen Land hat sie ihren Landsleuten den europäischen Weg gewiesen und gleichzeitig ein Auge für ihre Sorgen gehabt. Bei all ihren Lösungen hat sie die Mitte gesucht und gefunden – zwischen der deutschen Verantwortung für Europa und ihrer eigenen Pflicht als demokratisch gewählte Regierungschefin. In der Regel führte das auch zu guten Ergebnissen für Deutschland. Auch durch ihre Rolle haben angsteinflößende Töne in Deutschland wenig Gelegenheit bekommen, um die Bevölkerung zu radikalen, negativen Auffassungen zu verführen. Fast immer ist der Bundestag ihrer Europapolitik mit großer Mehrheit gefolgt. Die Eurokrise (in jedem Fall bis zum Frühjahr 2014) war Angela Merkels finest hour als Regierungschefin.

Es scheint paradox, aber in einem Land mit so einer starken Führungspersönlichkeit und so einem stabilen politischen System misstraut man der Politik. Die deutsche Geschichte bürgt für diese relativ junge Tradition, in der wichtige Themenfelder außerhalb des Bereichs der Politik angesiedelt werden. Die Bundesbank wurde sofort nach dem Krieg 1949 unabhängig gemacht, weil die Deutschen schlechte Erinnerungen an politische Eingriffe in die Geldpolitik hatten: Weimar und Hitler. Das gleiche galt für das Grundgesetz und seine Herrschaft über die Gesetzgebung.

Angela Merkels finest hour als Regierungschefin

Das Parlament beschließt die Gesetze, aber das Bundesverfassungsgericht prüft sie am Grundgesetz und spricht darüber das letzte Wort. Es ist kein Zufall, dass diese großartigen deutschen Einrichtungen nicht im Regierungszentrum Bonn/Berlin residieren, sondern in Frankfurt beziehungsweise Karlsruhe: Die könnte man eine physische Auslegung des Föderalismus nennen. Als 2008 eine Untersuchungskommission (nach der Effektivität des deutschen föderalen Systems) feststellte, dass Deutschland seit vielen Jahren nur Haushaltsdefizite gekannt hatte, meinte sie, dass es an der Zeit sei, eine grundgesetzliche Bremse zur Verhinderung von Staatsschulden einzurichten. 2009 wurde dieser Vorschlag von der deutschen Politik übernommen und diese Schuldenbremse in das Grundgesetz aufgenommen – noch bevor die Eurokrise dieses Rezept auch für die EU als Ganzes provozierte (Fiskalpakt, Dezember 2011). Seit 2012 kennt Deutschland wieder einen Haushaltsüberschuss – zum ersten Mal seit 1972. Die heutige Regierung hat sich in diesem Rahmen verpflichtet, von 2015 an keine neuen Schulden mehr zu machen und von 2017 an auf Steuererhöhungen zu verzichten. Gut betrachtet gründet die deutsche Herangehensweise an die Eurokrise auf einem vergleichbaren Gedanken: Politiker dürfen ihrer Verantwortung nicht aus dem Weg gehen (ihnen also durch die Europäische Kommission Zügel anlegen lassen) und von unabhängigen Einrichtungen die Finger lassen (Die EZB darf Problemländern Liquiditätserweiterungen zugestehen, auch wenn dies im Gegensatz zu den eigenen Prinzipien steht). Das wird auch in Zukunft Deutschlands Leitfaden in Europa sein, woran sich andere Mitgliedsstaaten werden gewöhnen müssen.

Geschichte ist sowieso unentbehrlich, will man Deutschlands Rolle in der Eurokrise verstehen. Es fängt schon an mit Gerhard Schröder, dessen Bruch der Absprachen 2003, als er die Regeln des Stabilitätspaktes übertrat, Frau Merkel ein für allemal aus dem Schandbuch der deutschen Geschichte nehmen möchte. Vereinbarung ist Vereinbarung ist die nicht zu brechende Regel in einem Währungssystem, das bei einem Mangel an Staat so sehr vom Vertrauen untereinander abhängt. Dann der Euro selbst, der von Deutschland gewollt wurde, um damit nervöse Nachbarländer und unruhige eigene Bürger zu beruhigen, die bei der deutschen Wiedervereinigung nicht nur jubelten. Auch Helmut Kohls Versagen bei der Gestaltung des Euro 1991 will Merkel gutmachen. Dann hat der Verlauf der Eurokrise Deutschland wieder daran erinnert, dass die deutsche Frage noch nicht verschwunden ist, auch wenn das heutige demokratische, entspannte, europäische Deutschland das beste Deutschland ist, dass es jemals gab. Und dann der Beginn des Ersten Weltkriegs, der das Vorbild eines nicht gewollten Krieges bot, in den sich aber die europäischen Mächte – verblendet wie sie waren durch Missverständnisse, Fehlkalkulationen und Sinnestäuschungen - gestürzt hatten. Deutschland will nicht, dass die Eurokrise mit uns macht, was der Sommer 1914 brachte, denn dann würde es mit Europa auf einmal nicht gut ausgehen können. Daher die harte deutsche Hand bei der Beherrschung dieser Krise, eine harte Hand, die glücklicherweise zu einer bescheidenen, ruhigen entschlossenen Kanzlerin gehört. Wäre dies nicht der Fall gewesen, dann hätten die antideutschen Reaktionen in Europa schon mal stärker ausfallen können.

Die ruhige Hand der Kanzlerin

Jene Reaktionen waren in Griechenland am heftigsten – zum Teil authentisch, zum Teil von politischen Gruppierungen manipuliert. Die Eurokrise bildet jedoch eine vorzügliche Chance für Griechenland, sich selbst zu reformieren und seine Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu modernisieren. Die schlechten griechischen Zahlen (und der Betrug, der damit begangen wurde) waren nicht das Resultat einer etwas ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung, sondern sie sind Ausdruck eines stark datierten wirtschaftlichen Systems und einer klientelistischen politischen Klasse. Griechenland ist dann auch immer noch die Schwachstelle im Wiederaufbau des Eurosystems, weil die griechische Politik die vorgeschriebenen Reformen nur halb umsetzt – oder manchmal weniger als das. Wenn irgendwo in Europa bei den Europawahlen 2014 ein Wähleraufstand zu erwarten ist, dann in Griechenland. Die Wähler werden vermutlich nicht zur faschistischen Morgenröte ausweichen, sondern eher ihr Heil bei der Koalition von Radikal-Links, Syriza, suchen. Auf den ersten Blick scheint so ein Ergebnis eine schlechte Nachricht für die Rettung des Euro zu sein, da die Bewegung und ihr Führer Alexis Tsipras zuvor die durch die EU und den IWF Griechenland auferlegte Sparmaßnahmen abgewiesen hatten. Nach eventuellen neuen nationalen Wahlen würde dies im schlimmsten Fall zu einem Austritt Griechenlands aus der Eurozone führen können. Dieses Szenario würde übrigens für Griechenland kostspieliger werden können als für die Eurozone, denn die hat sich inzwischen dagegen gewappnet. Was allerdings auch möglich ist, ist dass Tsipras die von der EU und dem IMF empfohlenen Marktreformen letztendlich als Chance sieht, um Griechenlands unverantwortlich auftretende Elite aus dem Sattel zu werfen und die dringend notwendige Reform der griechischen Wirtschaft seriös anzupacken. Die Geschichte kennt mehrere dieser Art dialektischer Überraschungen.

Griechenland deutet allerdings auch auf ein anderes Problem, nicht nur ein inländisches, sondern auch ein europäisches. Das Problem ist sowohl sozialer als auch politischer Art. Dadurch, dass die europäische Integration nun beinahe 60 Jahre im Zeichen der Aufhebung (insbesondere) wirtschaftlicher Hindernisse für freien Verkehr zwischen den europäischen Ländern steht, scheint Freimachung die Essenz des europäischen Projektes zu sein. Europa ist in die Kleider des Liberalismus gehüllt und ist darauf aus, den sozialen Schutz in den Mitgliedsstaaten abzubrechen, so der Eindruck. Das führt zu politischen Spannungen. Gegen die Liberalisierung des europäischen Luftverkehrs werden wenige Europäer Einwände haben, denn die macht das Fliegen deutlich billiger und verbindet die entlegensten Winkel unseres Kontinents miteinander. Das gleiche gilt im Prinzip auch für andere Märkte für Produkte und Dienstleistungen. Es wird empfindlicher, wenn es über den Arbeitsmarkt und die soziale Sicherheit geht, wie nun bei den Unterstützungsbedingungen für Griechenland. In der Eurokrise und den dafür gefundenen Lösungen spielt dies auch anderswo eine wichtige Rolle. Was hier auf dem Spiel steht, ist das demokratische Funktionieren von Europa und das europäische Funktionieren unserer eigenen Demokratien. Damit ist etwas schief gegangen, was dazu beiträgt, dass die Bürger sich in der europäischen Politik nicht gut vertreten fühlen und in dem nationalen demokratischen System eben so wenig.

Das soziale Europa ist verbunden mit dem politischen Europa

Es ist für die Legitimität der Integration von großer Bedeutung, dass Europa als Ganzes, ebenso wie die Mitgliedsstaaten, Züge einer sozialen Marktwirtschaft bekommt, in der das soziale Element genauso wichtig ist wie das Funktionieren des Marktes. In die Reihe von Verschärfungen der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) – Haushaltsunion, Bankenunion, Wirtschaftsunion -, die Europa zur Bekämpfung der Eurokrise realisiert hat, gehört auch eine Sozialunion. Innerhalb der deutschen Regierung gibt dazu schon Überlegungen - zur Förderung des Zusammenhaltes in Europa. So ein soziales Europa lässt sich nicht nur auf nationalem Niveau verwirklichen, sondern muss vor allem auf europäische Ebene eine Form finden. Auf europäischer Ebene können zum Beispiel allgemeine soziale Prinzipien und Regeln formuliert werden, wird die spezifische Ausgestaltung – abhängig von ihrem Wohlstandsniveau – den Mitgliedsstaaten überlassen.  Auch muss eine derartige Sozialunion festlegen, wie die Finanzierung zwischen Europa und den Mitgliedsstaaten geregelt wird und welche Verwaltungsebene für Ausführung und Aufsicht verantwortlich ist.

Der Aufbau eines sozialen Europas verbindet sich nämlich auch mit dem politischen Funktionieren Europas. Das befindet sich nämlich auf Tauchstation: Europäer mögen vielleicht noch Europa, aber sie haben ein großes Problem mit Brüssel. Unser hybrides, halbföderales und halbnationales Europa macht die europäische Politik so kompliziert, dass nur noch die Fachleute die Entscheidungsbildung verstehen und nicht wenige Bürger befürchten, dass ihnen ihr Land genommen wird. Das ist natürlich nicht der Fall, aber Europa hat manchmal den Anschein gegen sich.

Dadurch, dass Europa keine Föderation sondern ein Staatenverbund ist, sind europäische Beschlüsse noch stets das Ergebnis von Verhandlungen zwischen den Mitgliedsstaaten. Die finden in Abgeschiedenheit statt, während die Politik darin der Diplomatie Platz macht. Tatsächlich konnte Europa so weit kommen, weil europäische Kompromisse am einfachsten entlang dieses Weges geschlossen werden können. Die Folge war jedoch, dass in dem Maße, wie die europäischen Entscheidungen politischer wurden und darum dichter in de Nähe der Bürger kamen, diese sich stets mehr der Entscheidungsfindung entfremdet fühlten. Um diesen Prozess zu stoppen, dürfen wir nicht mit Notbehelfen kommen. Es ist notwendig, dass die Politik wieder in die europäische Politik zurückkehrt.

Die Lösung besteht nicht darin, Europa soweit abzureißen, dass nur eine Zollunion übrig bleibt, so wie gemäßigte britische Konservative das wollen, und auch nicht im Lavieren mit dem Begriff Subsidiarität um festzustellen, was Brüssel ein bisschen mehr oder weniger tun darf, obwohl das in einer Übergangsphase nützlich sein kann. Nein, was wirklich nötig ist, ist eine fundamentale Wahl einer Politischen Union, was nichts anderes sein kann als ein föderales Europa. Denn nur in einer Europäischen Föderation kann man das Gleichgewicht herstellen zwischen dem, was auf föderalem Niveau getan werden muss und was auf nationalem Niveau. Nur in einer Föderation kann sich der der europäische Bürger auf allen demokratischen Niveaus gut vertreten und bei der politischen Entscheidungsfindung vertreten einbezogen wissen, sowohl im nationalen als auch im föderalen Parlament. Nur in einer Föderation bekommt er das demokratische Wahlrecht für die Nominierung all seiner Verwalter: europäisch, national, regional und lokal. Über diese Parlamente kann er auch Einfluss ausüben auf die Verteilung von Befugnissen zwischen beispielsweise dem nationalen und europäischen Niveau. Auch eine Föderation bietet wahrscheinlich kein abschließendes System für die demokratische Legitimierung europäischer Entscheidungsfindung, aber diese wird in einer Föderation deutlich besser sein als in dem undurchsichtigen System, das wir nun haben. Das wird auch gelten für eine europäische Außenpolitik, die diesen Namen verdient und die die Welt immer mehr von Europa erwartet. Auf zu den Vereinigten Staaten  (und Nationen) von Europa.

Europa ist eine schöne Idee und ein wertvolles Projekt, wesentlich für unseren Frieden und Wohlstand. Es verdient Einsatz und Verteidigung, was mit der demokratischen Verantwortung gut zu kombinieren ist.

Europa ist eine schöne Idee

Das zeigt das Beispiel Angela Merkel der vergangenen Krisenjahre: eine klare Entscheidung für Europa und eine Vorgehensweise für die Erholung der Eurozone, die den deutschen Wählern Vertrauen einflößte. Der heutige in vielen Ländern sichtbare „Krebsgang“, bei dem die europäische Vereinigung eigentlich unsichtbar fortschreitet, während Politiker – aus Angst vor Kritik – so tun, als ob nichts dieser Art geschehen würde, ist ein Rezept für politische Katastrophen. Deutschland hat bewiesen, dass es möglich ist, sich für Europa zu entscheiden und damit zugleich das deutsche Problem handhabbar zu halten. Nur ein „europäisches“ Deutschland konnte in der Eurokrise die Führung übernehmen und Europa zu einem mehr „deutschen“ Europa zu führen.

Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass Deutschlands Handhabung der Eurokrise nicht ein Problem, sondern eine Lösung für Europa bildet. Das deutsche Modell funktioniert gut und kann, vorausgesetzt, es wird weiter reformiert, noch lange gut funktionieren. Aspekte davon wie die Organisation der Innovation der Industrie, das Lehrlingswesen auf dem Arbeitsmarkt und die flexicurity in den sozialen Sicherungssystemen sind anderswo gut zu gebrauchen. Ein etwas deutscheres Europa würde der EU mehr Dynamik und Disziplin bescheren und gleichzeitig den Blick mehr nach draußen, auf den Weltmarkt richten lassen. Außerdem gibt sich Deutschland alle Mühe, um die neue Gestaltung des Euro in einen europäischen Rahmen zu betten. Dieses deutschere Europa wird durch ein europäischeres Deutschland gestaltet, sowohl in den europäischen gemeinschaftlichen Strukturen als auch in der Zusammenarbeit mit ausgewählten Partnern. Deutschland sucht noch immer die innige Zusammenarbeit mit Frankreich, aber stets mehr auch die mit Polen. Sicherlich kann nach dem polnischen Beitritt zum Euro von dem Weimarer Dreieck viel Führung für Europa erwartet werden, was der Entscheidungsfindung in Brüssel Impulse geben kann. Ein europäisches Deutschland entsteht jedoch nicht von selbst, muss von innen heraus gesucht und von außen gefördert werden. Hier liegt auch die Herausforderung für die anderen Mitgliedsstaaten und Euroländer, auch für die Niederlande.

Deutschlands Handhabung der Eurokrise ist die Lösung

Die Niederlande liegen schon anderthalb Jahrhunderte zwischen den drei großen europäischen Mächten. Unserer Politik und unserer Wirtschaft haben stets Offenheit und Gleichgewicht genutzt. Offenheit, um die Weltmeere zu befahren und Gleichgewicht, um außerhalb des Zugriffs mächtiger Nachbarländer zu bleiben. Seit dem Zweiten Weltkrieg, als Offenheit und Gleichgewicht für fünf Jahre verschwunden waren, haben die Niederlande die Garantie dafür in der Kombination von Nato und Europäischer Integration gefunden. Die Vereinigten Staaten hielten die Sowjetunion auf Abstand, kontrollierten und revitalisierten Deutschland und boten einen sicheren Zugang zu internationalen Märkten. Europa bot  intensivierten Handel auf dem Kontinent, ein attraktives Modell der Zusammenarbeit von Groß und Klein und Versöhnung zwischen ehemaligen Feinden – allen voran Deutschland. Die großen Veränderungen seit 1990 – die Vereinigung Deutschlands und das Auseinanderfallen der Sowjetunion – verlangen noch immer eine fortgesetzte Reise der Niederlande nach Europa. Eine weitergehende europäische Integration bietet uns die Offenheit zur Welt und gleichzeitig das Gleichgewicht, das wir auf dem Kontinent an Schutz nötig haben.

Innerhalb der veränderten geopolitischen Konstellation dringt sich eine weitergehende Wahl für die Zusammenarbeit mit Deutschland auf. Wir haben viel miteinander gemeinsam und ergänzen uns auch gut. Wirtschaftlich bilden wir faktisch schon einen  Wirtschaftsraum, in der Eurokrise arbeiten wir gleichgesinnt an monetärer Stabilität und Angebot gerichtetem Wachstum und in der Welt arbeiten wir zusammen am Freihandel und setzen wir uns ein für Sicherheit und Entwicklung. Während der Eurokrise hat sich auf dem ersten Deutsch-niederländischen Gipfel 2013 gezeigt, dass Deutschland die Zusammenarbeit mit den Niederlanden sucht und intensivieren will. Natürlich bedeutet eine Wahl für mehr Zusammenarbeit mit Deutschland nicht, dass wir alle Eier in einen Korb legen müssen. Kontakte zu anderen europäischen Ländern bleiben wichtig, auch sei es darum, dass wir damit in Berlin – aber auch in Brüssel – Gewicht auf die Waagschale legen können. Frankreich ist ein Partner, in den wir auch zukünftig viel investieren müssen, nicht nur wegen seines großen spezifischen Gewichts, sondern auch, weil der Weg nach Berlin oder Brüssel manchmal besser via Paris führt. Etwas Vergleichbares gilt auf die Dauer auch für Polen. Mit Großbritannien liegen die Dinge komplizierter. Wirtschaftlich und ideell verbindet uns viel mit dem Land, was übrigens auch für Deutschland gilt. Es muss uns also viel daran gelegen sein, die Briten in der EU zu halten, aber die Frage ist wieviel. Falls die britische Diskussion über die EU-Mitgliedschaft in die Richtung einer allgemeinen Verwässerung der EU geht, müssen unsere größeren Interessen doch eher in die Richtung einer Vertiefung der europäischen Integration weisen. Dahin werden sie in Deutschland auf jeden Fall weisen, ganz gleich, wie gut Merkel und Cameron auch persönlich miteinander auskommen. Denn Europa bleibt die Hauptrichtung deutscher Politik.

Das Herz Europas ist da, wo Deutschland sich nun befindet, geografisch, aber seit der Eurokrise auch in politischer Hinsicht. Die europäische Verantwortung Deutschlands hat enorm zugenommen. Jeder schaut nun nach Berlin und erwartet weitere Schritte zur Verstärkung der europäischen Integration. Angela Merkel hat eine Änderung des EU-Vertrages schon als notwendig genannt. Auch die inzwischen begonnene Diskussion über Deutschlands internationalen Auftrag wird das Land näher an Europa heranführen. Deutschland kann die Last der europäischen Verantwortung jedoch nicht alleine tragen. Es ist zwar etwas größer  und stärker als andere große europäische Länder, aber lange nicht groß oder stark genug, um Europa permanent zu führen. Außerdem schleppt es noch immer eine belastende Geschichte mit sich herum. Deutsche Führung in Europa ist als dauerhafte Gegebenheit nicht zu erwarten, wohl aber mehr deutsche Prominenz bei der europäischen Entscheidungsfindung. Und schon allein diese Erwartung wird Deutschland für mehr Europa wählen lassen, was im deutschen Gedankengang nur eine politische Union, ein föderales Europa beinhalten kann. Darauf will es hinarbeiten und darüber will es auch in einem günstigen Moment auch einen verfassungsrechtlichen Beschluss nehmen, einschließlich eines Referendums, wenn möglich gleichzeitig in allen europäischen Ländern.

Sollten die anderen europäischen Länder Deutschland darin nicht unterstützen wollen, dann ist es denkbar, dass Deutschland letztendlich in Europa enttäuscht wird. Was dann geschieht, ist Kaffeesatzleserei. Aber wahrscheinlich ist es so, dass Deutschland dann mehr seinen eigenen Weg suchen wird – sowohl auf dem Kontinent als auch in der Welt. Das dürfen die Niederlande nicht geschehen lassen, denn das braust gegen viele unserer Interessen an. Zwar muss so eine „Politik der freien Hand“ keine Zerfaserung Europas bedeuten, aber sie kann sich wohl in einem Kontext von so viel Stagnation und selbst Desintegration abspielen, dass das Zusammenleben in Europa davon nicht angenehmer wird.

Deutschland führt uns aus der Eurokrise und mehr Europa ist der Preis, den wir damit gewinnen.

Der Text ist der Epilog des Buches „Hart van Europa. Hoe Duitsland ons uit de crisis voert en tegen welke prijs“ („Das Herz Europas. Wie Deutschland uns aus der Krise führt und um welchen Preis“), Prometheus, Bert Bakker, Amsterdam 2014 , das am 15. April in Den Haag vorgestellt wurde.

Der Autor war von 1989 bis 2013 im diplomatischen Dienst der Niederlande tätig, unter anderem als Botschafter in Warschau (2006-2009) und dann bis 2013 als Botschafter in Berlin. Er ist jetzt Senior Visiting Research Fellow bei Clingendael – Netherlands Institute of International Relations.

Aus dem Niederländischen übersetzt von Rolf Brockschmidt

Marnix Krop

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