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Das neue Medienrecht in Ungarn ist höchst umstritten.

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Europa und Ungarn: Mit brennenden Rockschößen

Das neue Medienrecht ist nur der bisher letzte Schritt einer Herausforderung der europäischen Demokratie, die sich seit dem vergangenen Frühjahr in Ungarn abzeichnet. Jetzt muss sich erweisen, ob es eine europäische Öffentlichkeit gibt, die den Namen verdient.

Ach Europa! möchte man mit Hans Magnus Enzensberger ausrufen, der unter diesem Titel vor zwei Jahrzehnten ratlos und hoffnungsfroh zugleich auf den Kontinent blickte. Da gibt es genug heikle Themen auf der Agenda des neuen Jahres: die Aufarbeitung der Euro-Krise, die Modifizierung des Lissabon-Vertrages, die Notwendigkeit eines Energiebinnenmarkts. Und nun hat es auch noch eine neue Präsidentschaft, die sozusagen unter Protestpfiffen ins Amt einzieht. Ungarn kann sich über die herbe Begrüßung nicht beklagen. Das Land, das für ein halbes Jahr an der Spitze Europas steht, hat sich den Ärger pünktlich zur Amtsübernahme selbst eingebrockt – mit jenem Mediengesetz, über das alle anderen Europäer die Hände ringen.

Droht Europa Unbill? So groß ist die Bedeutung dieses Amtes auch wieder nicht. Die Präsidentschaft nimmt für den EU-Ministerrat typische Vorsitzfunktionen wahr, und diese Aufgaben teilt sie seit vergangenem Jahr auch noch mit dem ständigen Präsidenten. Die Präsidentschaft kann einzelne Themen vorantreiben. Ungarn will sich, zum Beispiel, dem Roma- Problem widmen und eine europäische Strategie für den Donauraum auf den Weg bringen. Allerdings: Das Amt kann in einem Europa, das viele Gesichter, also keines hat, wesentlich zum Bild der Gemeinschaft beitragen. Womit Ungarn als europäische Größe in den Blick rückt. Und das ist gut so.

Denn das neue Medienrecht ist nur der bisher letzte Schritt einer Herausforderung der europäischen Demokratie, die sich seit dem vergangenen Frühjahr in dem Land im Karpatenbogen abzeichnet. Mit abrupten Entscheidungen und ungewöhnlicher Rigorosität hat Ministerpräsident Viktor Orban die damals errungene Zwei-Drittel-Mehrheit genutzt, um die Mechanismen demokratischer Kontrolle abzubauen und auszuhöhlen. Kein Zweifel, hier gräbt einer tief. Allerdings kann er sich auf eine Mehrheit der Bürger stützen, die den starken Mann und die nationale Attitüde will. Man darf freilich auch nicht übersehen, dass Orban mit brennenden Rockschößen agiert. Denn um das Land aus der Schuldenfalle zu bringen, hat er zu abenteuerlichen, eher „linken“ dirigistischen Maßnahmen gegriffen. Das kann für ihn problematisch werden. Eben erst hat eine Reihe von Investoren gegen ihn Front gemacht.

Als eine „konservative Revolution“ hat die deutschsprachige ungarische Zeitung „Pester Lloyd“Orbans Strategie charakterisiert. Der Begriff hat in Europa, zumal in Deutschland, einen fatalen Klang. Das meint die autoritäre Politik der Zwischenkriegszeit, in der sich in Europa die Kräfte zusammenballten, die die Demokratie untergruben, bis sie den Extremisten in die Hände fiel. Das Europa von gestern ist nicht das von heute. Aber gleichgültig kann solche Politik Europa nicht lassen.

Aber was kann es tun? Sanktionen, so das Instrumentarium der Gemeinschaft sie überhaupt hergibt, sind langwierig und kaum zielführend. Auch sprechen die Umstände von Orbans Siegeszug dafür, dass sie nationalen Trotz herausfordern würden. Gewiss muss die Kommission prüfen, inwieweit zum Beispiel Orbans rabiate Wirtschafts- und Finanzpolitik gegen europäisches Recht verstößt. Aber helfen kann nur eine Reaktion der Europäer auf den Sonderweg, den Ungarn eingeschlagen hat. Jetzt muss sich erweisen, ob es eine europäische Öffentlichkeit gibt, die den Namen verdient. Und Ungarn, über die Jahrhunderte hinweg ein wichtiger Teil der Geschichte des Kontinents, muss zeigen, dass es zu Recht zur Europäischen Gemeinschaft gehört.

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