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EU-Parlament in Straßburg: Schützenswerter Hort

© dpa

Europäische Union: Vorsicht vor der Zentralisierung

Alle Jahre wieder: Das EU-Parlament soll seinen Sitz in Straßburg räumen und mit nach Brüssel ziehen. Klar, das würde Kosten sparen - aber gleichzeitig würde den Parlamentariern etwas Wichtiges verloren gehen.

So eine Pendelei kann anstrengend sein. Zwölfmal im Jahr Schreibtisch aufräumen, Aktenmappen packen und los. Und ja nicht den Flieger/Zug verpassen. Dazu noch diese erdrückenden Zahlen: Der jährliche Reisezirkus des Europäischen Parlaments zwischen Brüssel und Straßburg kostet geschätzte 204 Millionen Euro, die Umwelt wird mit zusätzlichen 19 000 Tonnen CO2 belastet. Von der verlorenen Zeit gar nicht erst zu reden. Kein Wunder, dass das Thema „Ein Sitz für das Parlament“ wieder auf der Tagesordnung steht.

Schützenhilfe bekommen die reisemüden Parlamentarier dabei von den strengen Sparern aus Deutschland: Gerade das klamme Frankreich, so mahnt der Bund der Steuerzahler, müsse das alles doch mal genauer bedenken und sich dafür aussprechen, den Standort Straßburg endlich aufzugeben. Alle Kraft nach Brüssel – statt einmal im Monat 440 Kilometer nach „Stressburg“ zu pendeln. Klingt doch nur logisch, oder?

Ähnlich ertönt es alle Jahre wieder beim Dauerthema Bonn-Berlin: Der geteilte Regierungssitz koste (je nachdem, wer die Rechnung aufmacht) knapp zehn oder fast 25 Millionen Euro pro Jahr. Außerdem klaue das ständige Hin und Her den Beamten wichtige Zeit und Energie, die sie sinnvoller in ihre hoheitlichen Aufgaben investieren könnten. Daher sollten die sechs am Rhein mit Erstsitz verbliebenen Ministerien doch endlich mal an die Spree wechseln. Platz genug gibt es ja, und: Berlin zählt immerhin zu Recht zu den attraktivsten Städten der Welt. Auch hier mahnt der Bund der Steuerzahler regelmäßig, diese Kosten seien doch schlicht überflüssig.

Dass ein Komplettumzug nach Angaben des Bundesrechnungshofs mindestens fünf Milliarden Euro kosten würde – geschenkt. Keine Frage: Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands, zurück nach Bonn will heute ernsthaft niemand mehr. Und Straßburg ist – zumindest von Berlin aus gesehen – nur äußerst umständlich zu erreichen. Aber genau da lauert der Denkfehler: Vielleicht lässt sich eben nicht alles immer nur von Berlin aus beurteilen. Oder vom Eurokraten-Moloch Brüssel.

Straßburg ist Symbol der deutsch-französischen Aussöhnung - und damit wichtig für gesamt Europa

Straßburg zum Beispiel liegt im Dreiländereck, an der Grenze zu Deutschland und nicht weit von der Schweiz entfernt. Mitten in Europa also. Aus Straßburg kommen Europa-Enthusiasten wie Pierre Pflimlin, die wussten, was das Wissen über und die Freundschaft mit den einst verhassten Nachbarn bedeutet. Frankreich ist Gründungsmitglied der Europäischen Union, ohne die deutsch-französische Aussöhnung, deren Symbol das einst leidgeprüfte Straßburg ist, hätte es die europäische Einigung so nicht gegeben. Sich daran auch heute noch zu erinnern, schadet selbst Berufseuropäern nicht.

Europa mag immer weiter zusammenwachsen, keine inneren Grenzen, dafür aber eine einheitliche Währung haben, doch die unterschiedlichen Regionen mit ihren spezifischen Eigenheiten machen Europa am Ende eben erst aus. Wenn sich Europa nur noch von Brüssel aus drehte, würde der Blick sich nicht verengen? Ist der Wanderzirkus dagegen nicht geradezu charmant, um der zwangsläufigen Zentralisierung ein bisschen was entgegenzusetzen? Und auch wenn es etwas Vergleichbares nirgendwo gibt: Europa ist eben sui generis etwas ganz und gar Einzigartiges. Gar nicht so schlimm, dass es dafür ein Symbol gibt.

Ähnlich verhält es sich mit der Bonn-Berlin-Frage: Ein bisschen rheinische Gemütlichkeit kann dem hochgetunten Berliner Politbetrieb doch ganz gewiss nicht schaden. Das Pendeln mag anstrengend sein, aber ab und an mal aus einem anderen Fenster zu schauen, ermöglicht auch einen anderen Blickwinkel. Vielleicht lässt sich dabei die manchmal andere Sicht der Bundesländer und Kommunen auch besser verstehen. Berlin ist die Hauptstadt, aber Berlin ist nicht Deutschland. Dass es 23 Jahre nach der Wiedervereinigung noch einen schlagzeilenträchtigen Regierungsbericht zum Stand der Deutschen Einheit gibt, der am Ende doch vor allem die Unterschiede aufzeigt, passt eigentlich ganz gut zu einem geteilten Regierungssitz. Auch das ist zumindest ein Symbol für die Besonderheit der viel zu lange durch Mauern und Zäune geteilten Republik.

Die Zentralisierung wird weder in Deutschland noch in Europa auf lange Sicht aufzuhalten sein. Dafür dreht sich die globalisierte Welt zu schnell. Doch bis es so weit ist, sei den Reisemüden gesagt: Genießt es und nutzt die Zeit. Ihr sitzt noch früh genug wieder die ganze Woche am gleichen Schreibtisch.

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