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Familienpolitik: Wie viel Krippe braucht das Kind?

Qualität vor Quantität - für die Kleinsten gelten bei uns offenbar andere Regeln. Die Diskussion über Kinderkrippen weckt hierzulande vor allem große Emotionen.

Ohne uns ist der Säugling nichts. „Ein Baby – das gibt es nicht“, verkündete einst der englische Psychoanalytiker D.W. Winnicott. „Es gibt nur das Baby und einen anderen.“ Winicott bezog sich auf die offensichtliche Hilflosigkeit eines Säuglings, der ohne Mutter, ohne ein festes Gegenüber nicht existieren kann. Damit wir uns nicht aus dem Staub machen, hat die Natur das Kindchenschema (Konrad Lorenz) erfunden: Riesige Augen, runder Kopf, Pausbacken, Stupsnase, zahnloses Lachen – ein Blick, und wir schmelzen dahin. Winnicott meinte freilich noch etwas weit Bedeutenderes: Kleinste Kinder bedürfen „des anderen“ in existenzieller Weise, um in diese Welt eingeführt zu werden. Babys und Kleinkinder brauchen die Mütter und Väter nicht nur, um geliebt und gefüttert zu werden, sie brauchen sie zur Interpretation der verwirrenden Welt, als sicheren Hort, um in ihrem Schutz die Welt kennen und verstehen zu lernen, um Ordnung ins Chaos ihrer Wahrnehmungen zu bringen. Kleinkinder brauchen bekannte Gegenüber länger, als manchem recht und vielen wünschenswert erscheint.

Weil das so ist, brauchen sie verlässliche Betreuer, am liebsten Mütter und Väter – oder Ersatzmütter. Letztere können Großmütter, Tanten, Freundinnen, Kinderfrauen, Tagesmütter oder auch (stundenweise) Krippenerzieher sein. Um die Mütter und Ersatzmütter tobt die aufgeregte Diskussion zwischen Gegnern und Befürwortern von Fremdbetreuung der Allerkleinsten. Fremdbetreuung ist nicht neu, es hat sie immer gegeben, es wird sie immer geben. Selbstverständlich soll sie qualitativ hochstehend sein – was denn sonst? Soll Fremdbetreuung für die Kleinsten die Regel sein oder doch eher nur der Notnagel? Krippen, man muss es immer wieder betonen, sind keine Kindergärten. Sie sind für die Kleinkinder von null bis drei Jahren gedacht. Sie verlangen andere Betreuung, andere Pädagogik, andere Erzieher mit spezifischer Ausbildung. Sind wir darauf überhaupt vorbereitet?

Die Krippendebatte wurde bis jetzt vor allem von Zahlen bestimmt: eine halbe Million zusätzliche Plätze bis 2013 und die vielen Milliarden, die sie kosten. Über das Innere der Krippe indes wird kaum gesprochen, die Bedürfnisse der Kleinsten sind zugunsten der Nöte der Mütter ganz marginalisiert worden. Die Gesetze des Marktes dominieren die Debatte. Die Eltern müssen sich nicht an die Besonderheiten des hilflosen Säuglings anpassen, sondern die hilflosen Säuglinge müssen an die beruflichen Gegebenheiten ihrer Eltern angepasst werden. Wenn wir dann in Zukunft, wie es die große Koalition plant, ein Recht auf einen Krippenplatz festschreiben, dann können Eltern kurioserweise die Fremdbetreuung ihrer Kinder, die Kinder aber nicht die Betreuung durch ihre Eltern einklagen.

Jede Studie zur frühen und institutionalisierten Fremdbetreuung weist stets darauf hin, dass die Eltern die wichtigsten Bezugspersonen für ihre Kinder sind. Wieso will die Politik dann dieses Band nicht stärken, sondern schwächen? Die Kleinsten brauchen ja nicht nur die besondere Hinwendung und Aufmerksamkeit ihrer Liebsten, sie brauchen auch eine andere Pädagogik und feste Bezugspersonen, die ihre Äußerungen erkennen und deuten können, die nicht indifferent sind. Krippenkinder sind keine Vorschulkinder. Interaktion ist für sie stets eins zu eins, sie kennen das ICH. Das WIR interessiert sie nur als ICH und DU.

Darum auch sollen Gruppen für Babys und Kleinkinder sehr klein sein. Fachleute sprechen von einer Stärke von höchstens zwölf Kindern. Der Betreuungsschlüssel für diese Kleinsten sollte eins zu drei nicht übersteigen. Der Schlüssel in vielen Krippen liegt oft doppelt so hoch, die Gruppengröße wird fast immer weit überschritten. Wenn man dann noch gemischte Altersgruppen einführt, wie das in jüngster Zeit zunehmend der Fall ist, werden die Personaldecke noch kürzer und die Kinderzahl nach oben geschraubt. Da sitzen dann Unterzweijährige im selben Betrieb wie Vorschulkinder. Da heißt es für die Kleinsten, sich anzupassen oder zu trauern und zu warten, bis endlich die schmerzlich vermisste Mutter oder der Vater erscheinen.

Da kommt es schon vor, dass eine Gruppe von 20 bis 25 Kindern von zwei Erziehern und einer Praktikantin betreut wird. Selbst Mary Poppins könnte unter solchen Bedingungen die Kinder kaum glücklich machen. Tanzen und Singen vergehen den Erziehern, die nur noch aufs Ordnen, Füttern, Säubern aus sind. Individuelle Pflege, Ansprache, Förderung, Bindung gar – ausgeschlossen. Es gibt Krippen, wo die Eltern gebeten werden, auf geschnürte Schuhe zu verzichten, weil zum Binden der Bänder keine Zeit vorhanden sei. Selbst wenn wir für die Kleinsten die ideale Besetzung hätten, so kann sich jede Mutter vorstellen, was es heißt, drei Kleinkinder gleichzeitig betreuen zu müssen. Eins hat sie im Arm und gibt ihm die Flasche, das nächste wacht gerade aus dem Schlaf auf und brüllt, und das dritte hat seinen Schnuller verloren und beginnt zu wimmern.

Selbst wenn die Erzieherin zugewandt ist, sie wird stets mindestens ein Kind in seiner Erwartung enttäuschen müssen. Der schwedische Neonatologe Hugo Lagercrantz plädiert wie der deutsche Frühkind-Guru Wassilios Fthenakis dafür, die Krippe nicht vor 18 Monaten zu besuchen. Der Schwede zieht aus medizinischer Sicht sogar einen Krippenbeginn mit zwei Jahren vor. Dem stimmt der Präsident der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Michael Schulte-Markwort, zu: „Aus klinischer Sicht war ich immer dafür, die Kinder möglichst lange zu Hause zu betreuen. Natürlich tut es manchen Kindern gut, wenn sie fremdbetreut werden, aber im Normalfall ist es eben besser, länger fürs Kind da zu sein.“

Neben dem Alter der Kinder, der Gruppengröße und dem Personalschlüssel ist die Anzahl der Stunden, die ein Kleinkind in einer Einrichtung verbringen sollte, entscheidend für die Qualität. „Zwanzig Stunden“ (wöchentlich) , sagt Wassilios Fthenakis, „nicht mehr als dreißig“, sagt sein amerikanischer Kollege Jay Belsky, der auch einer der Autoren der bekannten NICHC-Langzeitstudie ist. Die in dieser Studie festgestellten Verhaltensprobleme von größeren Kindern waren desto auffälliger, je mehr Stunden sie als kleinste Kinder in Fremdpflege verbracht hatten. Auch eine kalifornische Studie („How much is too much?“) aus dem Jahre 2005 kam zu dem Schluss: Je früher und länger ein Kind in die Krippe geht, desto langsamer ist seine soziale Entwicklung. Darum auch plädiert der Verhaltensbiologe Joachim Bensel für den Verzicht auf Ganztagsbetreuung und fordert die Entwicklungspsychologin Lieselotte Ahnert, „unbedingt darauf zu drängen, dass Eltern ihre Kinder nicht zu lange in den Krippen lassen“. Krippen sollten Ergänzung sein, für die voll berufstätige Mutter werden sie aber notgedrungen zum Vollzeit-Ersatz.

Die letzte tragende Säule einer guten Krippe ist das Personal. „Je jünger die Kinder, desto besser sollte das Personal geschult sein“, notiert Wassilios Fthenakis. Klappt aber nur selten. Deutsches Frühkindpersonal wird nicht an Universitäten und Fachhochschulen ausgebildet. Kinderpflegerinnen durchlaufen oft nur eine einjährige Ausbildung, Erzieherinnen, früher hießen sie Kindergärtnerinnen, werden etwas besser und länger ausgebildet, aber auch sie wissen, dass es für die Anforderungen an die Frühkindpädagogik nicht reicht. So ergab eine Befragung der Bertelsmann-Stiftung von „Fachverantwortlichen zur Qualifizierung von Mitarbeitern in Kitas für Unter-Dreijährige und Tagesmüttern“, dass 61 Prozent der Befragten die Träger von Betreuungseinrichtungen als „nicht so gut, schlecht oder sehr schlecht auf die Bildung, Betreuung und Erziehung von Unter-Dreijährigen vorbereitet“ einschätzen. Auch das Personal selber hält sich für schlecht vorbereitet. Über 45 Prozent der Fachverantwortlichen bewerteten die Qualifizierung der Erzieherinnen und Tagesmütter als „nicht so gut bis schlecht“.

Gründe dafür werden auch gleich genannt: Defizite in der Ausbildung, veraltetes Bild vom Kind und fehlende methodisch-didaktische Kenntnisse. So sind die Erzieher schon jetzt auf ihre kleinen Schützlinge schlecht vorbereitet. Wie soll sich das in weniger als sechs Jahren ändern? Und vor allem: Wo sollen die Erzieher für eine halbe Million Krippenplätze eigentlich herkommen? Nach dem idealen Personalschlüssel braucht man für eine halbe Million Krippenkinder mindestens 100 000 bis 150 000 Erzieher. Krippen-Euphoriker mögen das Hohelied auf die qualitativ hochstehende Krippe singen, mit der Realität hat das meist wenig zu tun. Schlechte Ausbildung, Personalmangel und notorischer Personalwechsel, dazu schlechte Bezahlung, lange Arbeitszeiten und wenig Anerkennung sind keine guten Voraussetzungen für den liebevollen und kompetenten Umgang mit den Kleinsten.

Solange zu vielen Kleinkindern lediglich eine Satt-und-sauber-Verwahrung zugemutet wird und sich ihre Betreuer damit zufriedengeben müssen, sollte man von der Krippe entwicklungspsychologisch und pädagogisch nicht allzu viel erwarten. Wie gut ein Baby oder ein Kleinkind in einer Krippe gedeiht, hängt davon ab, „wie viel Zeit es mit jemandem verbringt, der nicht nur für es sorgt, sondern sich vor allem um es sorgt“, warnt die englische Entwicklungspsychologin Penelope Leach. „Drei Stunden täglich in einer ebenso unterbesetzten wie überfüllten Krippe, in der es für niemanden etwas Besonderes ist, sind kein Glücksfall für ein Baby. Neun Stunden täglich in derselben Krippe werden seiner Entwicklung ziemlich sicher Schaden zufügen.“

Die selbsternannten Experten mögen uns die Krippe schönreden und ihren Wert auch für die Allerkleinsten preisen, insbesondere weil sie es den Müttern erlaubt, arbeiten zu gehen. Die arbeitende Mutter gilt als die glückliche Mutter. Und eine glückliche Mutter macht auch ihr Kind glücklich, lautet eine wohlfeile These. Nun, vom Säugling wird man wenig Verständnis für die Abwesenheit der Mutter heischen können. Er versteht nicht, warum er von ihrem Arm runter in einen fremden Arm oder ein fremdes Bett gelegt wird. Er will schlicht nur, dass sie oder ein Ersatz für ihn da sind. Der Ersatz müsste freilich so verlässlich sein, wie Mütter es zu sein pflegten. Ein Staffellauf stets neuer Betreuer ist für das Kleinkind anstrengend und verstörend. Es muss sicher gebunden sein an die Mutter, an den Vater, an die Großmutter, um Mut zu fassen für die Welt da draußen. Sichere Bindung ist kein Klassenziel, das man in ein paar Wochen erreicht. Vielleicht braucht es mehr als ein halbes Jahr, vielleicht auch zwei. Jedes Kind braucht seine eigene Zeit.

Ein Kleinkind hat die Fähigkeit, mit einer neuen, sicher verfügbaren und feinfühligen Bindungsperson eine neue, tragende, sichere Bindung einzugehen. In kleinem, familiärem Rahmen gelingt das für die Kleinsten am besten. Darum auch ziehen in den ersten Monaten und Jahren Mütter meist die Tagesmutter der Krippe vor. Institutionalisierte Fremdpflege bleibt für die Kleinsten ein Problem. Wenn ein Krippenbefürworter wie Fthenakis den Krippenbesuch vor dem 18. Monat nicht empfiehlt, liegt das nicht nur an der Betonung primärer familialer Bindung, sondern auch an der Einsicht, dass das sicher gebundene Kind von der Krippenerziehung am meisten profitiert.

Kinder sind die Zielgruppe der Krippeninitiative, doch sie werden nicht gefragt. Über sie wird verfügt, diskutiert und entschieden. Und wenn sie Symptome von Kummer und Elend zeigen, hoffen die Erwachsenen optimistisch, dass das schon vorübergeht. Unser Umgang mit den schwächsten Mitgliedern der Gesellschaft, den ganz kleinen, hilflosen Kindern, könnte sich bald nicht mehr von unserem Umgang mit den anderen Schwachen, den Alten, unterscheiden. Dass die Mehrheit der Mütter, das zeigt Umfrage für Umfrage, die Auslagerung der Kleinkinder in institutionalisierte Pflege gar nicht will, sollte der Politik zu denken geben.

Unsere Kinder sind unsere Zukunft, heißt es in Sonntagsreden gern – und für die Kleinsten ist das Beste gerade gut genug, lautet ein anderer Kalenderspruch. Das Beste sind nicht Designerkinderwagen und -windeltaschen, sondern Zeit und entschiedene Zuwendung ihrer Eltern.

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