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Meinung: Faule Eier im Krematorium

Von Roger Boyes, The Times

Offene Türen im Kanzleramt – eine gute Idee, unvorstellbar in Downing Street No. 10 oder im Elysée. Schade, dass die Sicherheitskräfte mir nicht erlaubten, meine faulen Eier mitreinzunehmen. Offenbar zweifelten sie an meiner Loyalität zum Kanzler. Lesen Polizisten nicht mehr die Werke von Josef Stalin? Es ist unmöglich, sagte Stalin über die blutige bolschewistische Revolution, ein Omelett zu machen, ohne dass Eier zu Bruch gehen.

Nun gut, Hartz IV ist nicht gleich eine Revolution und das Kanzleramt nicht der Winterpalast, aber ein paar Eier könnte man für die Reform schon opfern. Politische Führer mit Beleidigungen und cholesterinhaltigen Lebensmitteln zu traktieren gehört schließlich zum demokratischen Prozess. Weiter so, Leipzig!

Der Blick aufs Kanzleramt ändert sich mit dem Ausweis. Mitarbeiter klagen über die langen Flure und die physische Entfernung zum Boss. Bonn war intimer. Journalisten tauchen kurz auf für Interviews und Pressekonferenzen und gehen wieder. Für sie könnte das auch ein wichtiges Flughafenterminal sein. Für die Bürger, die Schlange stehen, um Kanzlers Garten zu sehen, bleibt das Amt ein Objekt der Bewunderung. Es war eine Entdeckung, das Gebäude als Tourist und nicht als Journalist zu besuchen. Plötzlich wurde die Ähnlichkeit mit dem Treptower Krematorium klar: die hohen Decken und geschmackvollen Krümmungen, die Axel Schulte schon in Treptow schuf, sind unverwechselbar.

Erstmals verstand ich, warum Schröders Kanzlerschaft so leblos wirkt. In Bonn lebten die Kanzler im angrenzenden Bungalow. Helmut Schmidt lud dort zu Konzerten und Dinnerparties. Der Garten war abgeschirmt genug, um in der Sonne mit ausländischen Gästen zu plaudern. Der Berliner Kanzlergarten ist völlig offen und ständig unter Beobachtung. Unmöglich, dort Sex zu haben.

Es wäre zu extravagant, im Kanzler einen Gefangenen von Axel Schultes Krematoriumsarchitektur zu sehen. Aber es fällt schwer, an den dynamischen Reformwillen eines Führers zu glauben, der sich so lange passiv, ja träge verhielt. Da liegt Schröders Glaubwürdigkeitsproblem: Die Reformen an sich sind nötig, sogar klug, aber dieser Kanzler regiert seit 1998. Wo sind die Jahre geblieben?

Die Kunst des Journalismus besteht darin, aus diesem zögerlichen, an sich selbst zweifelnden Mann eine heroische Figur zu machen – bereit, die eigene Popularität für Deutschlands Heil zu opfern. Diese Aufgabe überfordert das Bundespresseamt, aber auch einige der besten Kommentatoren. Der Politguru des „Stern“ vermutet absurderweise, Hartz IV werde Weimar II heraufbeschwören. Sein Kernpunkt: Der Kanzler müsse nicht nur für die Reform kämpfen, sondern gleich für die Demokratie. Wieder diese weinerlichen, unzuverlässigen Ossis, die nur darauf warten, von PDS und NDP verführt zu werden! Well, kämen diese Kommentatoren etwas öfter aus ihren Büros heraus, könnten sie sehen, dass die Montagsdemos ungefähr so lebendig sind wie die Regierung.

Etwas mehr Anarchie, ein paar mehr faule Eier würde ich begrüßen. Anarchie war die Inspiration für große Kunst, die Poesie von Mallarmé (für den Bücher wie Bomben waren), die Filme von Bunuel, die subversive Musik von John Cage und sogar, soweit ich das beurteilen kann, die Möbelbausätze von Ikea. Deutschland braucht eine anarchische Revolte. Die Protestierer, die letzte Woche durch die Torstraße marschierten, sahen aus wie unter Hypnose: gepiercte Omas, Bundesbahnangestellte, die übliche Verdi-Aufführung. Die Leute waren nicht wütend, nur müde – wie der Kanzler.

Der Autor ist Korrespondent

der britischen Zeitung „The Times“.

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