zum Hauptinhalt

Meinung: Feld des Anstoßes

Von Peter von Becker

Zum neuen Jahr wünschen sich Politiker, Papst und Bürger auch diesmal eine friedlichere Welt. Viel ist da vom Dialog der Kulturen die Rede. Anstelle des Kampfs. Wobei der Dialog auch die Differenz und den Streit mit Worten statt Waffen einbezieht. Das ist das Neue – verglichen mit den Zeiten eines naiven, alle Unterschiede verwischenden Multikulturalismus. Neu ist aber auch die Frage, die westlichen Politikern und Diplomaten, Künstlern und Wissenschaftlern immer häufiger gerade in muslimischen Regionen oder in Ländern wie Indien und China gestellt wird. Sie lautet, groß und schlicht: Was sind eure Werte?

Lange mochten vor allem sensible Europäer die eigenen Wertfragen in Afrika und Asien, auch in Südamerika, nicht stellen oder gar nicht offensiv beantworten. Denn wir wollten nicht als unverbesserliche Eurozentriker erscheinen. Da hat sich, spätestens mit dem 11. September 2001, vieles gedreht. Plötzlich kommt in die Welt der scheinbar allmächtigen Ökonomie eine Frage, die auch für überwiegend säkulare Gesellschaften, für nichtreligiöse Menschen die Sphäre des Spirituellen, vor allem aber die Ethik des eigenen Denkens und Handelns erfasst. Was sind unsere Werte?

Der aufgeklärte Zeitgenosse wird sich hier auf die allgemeinen Menschenrechte, auf demokratische Freiheiten, auf die Kernartikel des Grundgesetzes berufen. Trotzdem ist erstaunlich, dass eben noch unerschütterliche Überzeugungen, etwa vom Wert der Meinungs- und Kunstfreiheit, in diesem Jahr – Karikaturenstreit, „Idomeneo“ -Affäre – schon unter geringem Druck zu bröckeln begannen und ein widerständiger Konsens gegenüber fundamentalistischen Eiferern erst einer forcierten Diskussion bedurfte.

Wir sind angreifbarer geworden und werden auch selbstbewusster angegriffen. Wer vom Westen aus in Russland und China Demokratie und Rechtstaatlichkeit einfordert, hört dann oft: Das seien relative Werte, solange es ohne einen autoritären Staat überhaupt keine Rechte gebe. China und Russland postulieren stattdessen „soziale Menschenrechte“, kollektive Grundsicherung statt individuellen Ansprüchen. Doch ist das kein Argument – für Tötung und Folter. In Georg Büchners Geschichtsdrama „Dantons Tod“ sagt der Philosoph Thomas Paine, was heute auch der Islamwissenschaftler Navid Kermani in seinem Buch „Der Schrecken Gottes“ bedenkt: „Der Schmerz ist der Fels des Atheismus.“

Der Schmerz, den kein Gott verhindert, ist freilich auch: ein Fels der universellen Menschenrechte. Keine Religion, Ideologie oder weltliche Relativierung kann bestreiten, dass ein Chinese, Tschetschene oder Sudanese, wenn man ihn quält, denselben Schmerz spürt wie wir. Darum darf es beispielsweise über das Verbot der Folter keine Verhandlungen geben. Aber selbst an diesem Kernpunkt ist die westliche Leitmacht schon angreifbar geworden.

Deutschland wird ab Januar mit seiner führenden Rolle in der EU und bei den G-8-Staaten spüren, dass sich Wertfragen auch als Wertunterschiede wieder stellen. Denn wertfrei wirken wir schwach. Das gilt auch im Inneren. So ist der Wert der sozialen Solidarität in statistischen Verteilungsdebatten lange zerredet worden. Als sei der Schmerz der Armut in einem reichen Land nur ein Phantom und kein Fels des Anstoßes.

-

Zur Startseite