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Finanzkrise: In der Retro-Republik

Die Weltökonomie sucht nach Wegen aus der Krise, Deutschland träumt von einem wiederaufgebauten Schloss. Warum?

Von Caroline Fetscher

Jetzt ginge das vermutlich. Jetzt ließe sich Goethes Leben verfilmen. Für einen Drehbuchantrag wäre der Zeitpunkt jedenfalls enorm günstig. So könnte man den größten, bürgerlichen Kulturheroen deutscher Sprache wenigstens visuell ins 21. Jahrhundert hinüberziehen, mitsamt authentischen Kostümen, Kutschen, Weimarer Bühnen. Dass aber der Zeitpunkt für ein solches Projekt ideal wäre, verdankt sich einem auffälligen Widerspruch der deutschen Gegenwart. Ausgerechnet in einer Phase, die allein der weltweiten Krise wegen international orientierten Weitblick und couragierte Innovation erfordern würde, gewinnt hierzulande mehr und mehr nationale Rückbesinnung an Boden, ballt sich im Binnenraum der Gesellschaft ein biedermeierliches Ambiente zusammen, konstruieren wir uns eine Retro-Republik. Der Befund ist vielen vor Augen, die Anamnese noch lückenhaft.

Eklatantestes Symptom des Zustands ist, dass sich erhebliche Anteile der Gesellschaft die millionenteure Renaissance einer Hohenzollern-Residenz in der Hauptstadt wünschen. Seine Spolien sind fast komplett verschollen, doch soll "das Stadtschloss", das frühere preußische Herz der Hauptstadt, wiedererstehen, wenigstens, wie im neulich verabschiedeten Entwurf, als feudale Fassade. Hinter der Fassade wiederum sollen völkerkundliche Artefakte, aufgebahrt in Vitrinen, ihre "Heimstatt fremder Kulturen" erhalten. Der ganze Plan bezeugt ein nahezu delirant anmutendes Begehren, vergangene Größe heraufzubeschwören, eine rückwärtsgewandte Sehnsucht nach Repräsentation, die zugleich als kulturpolitisches Novum verkauft und durch den Namen Humboldt in den Rang eines Aufklärungsakts erhoben wird.

Als hätten das Land, die Stadt keine anderen Probleme. Als könnte das Areal, auf dem in der Nachfolge des Schlosses bis vor kurzem der asbestverseuchte Palast der DDR gehockt hatte, nicht Zukunftssignale setzend genutzt werden. Anstatt für tote Exponate aus dem kolonialen Beutefundus könnte man das Gelände als Ausbildungspark für die der Gesellschaft entfremdeten - aber quicklebendigen - Jugendlichen der Millionenstadt im Zentrum Europas nutzen. Doch die Repräsentationspolitik sieht es anders vor. Bereits beim so- genannten "Bildungsgipfel" im Oktober mit seinen Akkorden aus hehren Versprechen und kleinlauten Klagen über Kassenknappheit war klar, dass die Stunde der Neuerungen fern ist.

Ein "Orkan des Erinnerns"

Inzwischen laufen im Finanzministerium die Computer heiß, während die Beamten dort versuchen, wenigstens das Basisversprechen in der Krise - "die Spareinlagen sind sicher" - einzuhalten. Bei so viel Problemdruck flüchtet es sich umso lieber in die Vergangenheit. Passend zelebrierte das Titelblatt des "Spiegel" Mitte Dezember und zweitausend Jahre nach der Varus-Schlacht die "Geburt der Deutschen". Grabungsfunde von Hobbyarchäologen hatten am Westrand des Harzgebirges "Waf fentrümmer, Schleuderbleie und Legionärsskelette" ans Licht gebracht, die den Sieg des Germanen Arminius, Hermann der Cherusker genannt, über die Truppen des Römers Quintilius Varus neu deuten lassen, und nun einen "Orkan des Erinnerns" auslösen.

Nicht ganz so tief lotet die Sonde der Erinnerung anhand der frisch verfilmten "Buddenbrooks", die auf ihre Weise zum Schwelgen im Damals einladen. Nachdem wir das "Wunder von Bern" neu bejubelt haben, den "Untergang" im Führerbunker wie den Untergang der "Gustloff" verfolgen durften, wird jetzt der aufwendig inszenierte Untergang einer Patrizierfamilie präsentiert. Parallel fällt ein vor Retro-Flair flackerndes Phänomen wie Uwe Tellkamps Bestseller "Der Turm" in die Gegenwart ein, dessen Titel mit Wilhelm Meisters "Turmgesellschaft" spielt, während der manieristische Duktus des Romans das Erbe Thomas Manns beansprucht. In einer forciert von altmodischem Vokabular durchsetzten Sprache bietet "Der Turm" auf tausend Seiten seinerseits Untergang an, den eines trotzig das Nibelungenlied lesenden DDR-Bildungsbürgertums und zum Trost den der ebenfalls untergehenden DDR.

In dieser kulturellen Klimakatastrophe könnte eine realistische Goethe-Biographie, in zwölf Teilen zur Hauptsendezeit, nachgerade ein öffentlich-rechtliches Anliegen werden, als kultureller Kompromiss für eine Interimsphase. Mindestens eine geeignete Schlüsselpassage für die Gegenwart findet sich bei Goethe. Sie steht im Fünften Buch von "Wilhelm Meisters Lehrjahre", die 1795 erschienen. "Der Mensch kann in keine gefährlichere Lage versetzt werden, als wenn durch äußere Umstände eine große Veränderung seines Zustandes bewirkt wird, ohne dass seine Art zu empfinden und zu denken darauf vorbereitet ist. Es gibt alsdann eine Epoche ohne Epoche, und es entsteht nur ein desto größerer Widerspruch, je weniger der Mensch bemerkt, dass er zu dem neuen Zustande noch nicht ausgebildet sei."

Das "Ende der Geschichte" war keins

Um das deutsche Rückwärts-Syndrom besser zu verstehen, ist die Erkenntnis zur "Epoche ohne Epoche" hilfreich. Mit ihr sieht man das Begehren nach lange Bestätigtem, nach vergangenen Triumphen und Tragödien als direkte Folge massiver und mangelhaft reflektierter Verunsicherung. In einer Epoche ohne Epoche, in einer orientierungsarmen, verwirrenden Erschütterung sieht sich die heutige Welt, und das nicht erst seit dem 11. September - vielmehr war er bereits deren Symptom. Von 1989 an war das Panorama vertrauter Antagonismen von Ost und West, Sozialismus und Kapitalismus aufgelöst oder zersprengt worden, je nach Perspektive, geographischer Lage. An der gewohnten Balance des Kalten Krieges, am Kompass des Gegebenen, hatten sich die politischen Subjekte ausrichten können. Nach dem Wunder von 1989, dem, dass ein Kalter Krieg ohne heißen Krieg geendet hatte, war der Nachkriegskompass rostig und weitgehend nutzlos geworden. Vorüber waren die ideologischen Grabenkämpfe quer über den Atlantik und deren horrende Stellvertreterkonflikte in den jeweiligen Vasallenstaaten anderer Kontinente. Das "Ende der Geschichte" einzuläuten zog der Philosoph Fukuyama gleich am ultimativen Glockenstrang - gesiegt haben sollten für alle Zeiten Freiheit, Vernunft, Marktwirtschaft und Demokratie.

Doch das Weltgeschehen ging mit einer irrlichternden Dynamik weiter, die für Zeitgenossen oder Zeithistoriker nicht rasch entzifferbar wurde. Wilde, neue Deutungsansprüche formierten sich, die Geschichte war keineswegs zu Ende. Stattdessen gab es alsdann eine Epoche ohne Epoche, und es entstand nur ein desto größerer Widerspruch, je weniger die Gesellschaft bemerkte, dass sie zu dem neuen Zustande noch nicht ausgebildet war. Wie es der Logik von Entwicklungen in einer Epoche ohne Epoche entspricht, wandten sich ganze Kohorten und Gesellschaften, ganze Staaten - insbesondere in den neu entstandenen Staaten am Saum des ehemaligen Ostblocks oder im zerfallenen Ex-Jugoslawien - unter dem Eindruck des Neuen, im Schock der Freiheit und Unsicherheit, dem Vergangenen zu, dem vermeintlich Vertrautesten, Eigensten, der Nation, der Religion und deren esoterischen oder  fundamentalistischen Derivaten. In Osteuropa bietet jeder Buchladen inflationär Astrologie-Breviere und verwandte Druckerzeugnisse an. In muslimisch geprägten Regionen begriffen die Verfechter radikal-islamischer Fundamentalismen die Verunsicherung als ihre Chance. Solange Gesellschaften noch nach einem neuen politischen Kompass suchen, werden präpolitische oder metapolitische Sinnangebote besonders attraktiv. Genau diese Dynamik bescherte der Welt den 11. September als mächtigstes Symptom solcher Erschütterung.

"Epoche ohne Epoche"

Regression ist in der Regel ein Resultat starker Verunsicherung. Beobachtbar wird das sehr klar bei Kindern, die, aus gewohnter Umgebung plötzlich herausgerissen, mit überwältigend viel Neuem konfrontiert werden und in eine "Epoche ohne Epoche" geraten. Unter dem Eindruck des Traumatischen fallen sie oft zurück in frühere Gewohnheiten, sie sprechen wieder schlichter oder schaukeln sich in den Schlaf.

Ein Erwachsener, eine Gesellschaft reagiert vergleichbar auf traumatische Umbrüche. In den Symptomen, die Deutschland derzeit produziert, spielen primäre traumatische Ereignisse wie Geburt und Tod eine auffällige Rolle, etwa wenn von der "Geburt der Deutschen" oder dem "Untergang der Deutschen" die Rede ist, und geben Hinweise auf den Grad der Ängste. Liest man sie unter diesem Aspekt, bekommen unsere aktuellen Obsessionen mehr Sinn und lassen sich womöglich leichter lösen.

Jede "Epoche ohne Epoche" drängt zu Transformation - und mobilisiert zugleich Widerstand gegen sie. Daher entstand das Biedermeier parallel zum Vormärz, als Reaktion auf dessen Aufbruchsimpulse. In der Gegenwart erleben wir eine Fülle an parallelen Prozessen, die in beide Richtungen weisen, in die Regression wie in die Transformation. Weltweit stehen einander Schwellenländer und Industriestaaten, autoritäre, religiöse Systeme und säkulare Demokratien gegenüber. Dutzende von Transformationsprozessen werden uns medial vermittelt und sind gleichzeitig in Gang. Auch in Deutschland - ohne dass wir uns dessen voll bewusst werden.

Seit dem Zerfall der Machtblöcke und der friedlichen Einverleibung der ehemaligen DDR macht ein Viertel des Landes einen ähnlich drastischen Transformationsprozess durch wie Ungarn oder Rumänien. Seit knapp einer Generation sollen zwei Gesellschaftsteile zusammenfinden, die nach 1945 enorm unterschiedliche Reisen angetreten hatten. Der neue Teil des Landes gehörte bis 1989 zur "Zweiten Welt", der Solidar-Beitrag ist das interne Pendant zur Entwicklungshilfe. Rund zehn Jahre nach der Wende erkannte sich Deutschland endlich als Einwanderungsland, das zusätzlich auch Teile einer "Dritten Welt" zu integrieren hat. Auch wurde deutlich, dass manche Zuwanderer von den regressiven Strömungen des fundamentalistischen Islam erfasst werden können. Viele Spannungen des Weltgeschehens spiegeln sich hier im Staat.

Treuherzig stellen wir Steuerzahler keine Fragen

Mit dem starken Schub der Globalisierung klaffte innerhalb der drei Teile der Gesellschaft - Ostdeutsche, Westdeutsche, Migranten - ein weiter Riss auf, der zwischen einem sozial verwahrlosenden, bildungsfernen Prekariat und etablierteren Schichten bis hin zu den Eliten. Das über Nacht um 18 Millionen Ostbürger erweiterte und dann als Zuwanderungsziel aufgewachte Deutschland der Gegenwart stellt also ein Stück historisch stark verunsicherter Erster Welt dar, das Portionen Zweiter und Dritter Welt integrieren und sich zeitgleich an die globale Turbowirtschaft anpassen muss, die auch noch in eine Krise geraten ist. Deshalb ist es wenig verwunderlich, dass produktiver Reformdruck, den es in den neuen Bundesländern und bei der Integration migrantischer Bevölkerungsanteile gab und gibt, mit regressiven, nostalgischen, Retro-Phantasmen konkurriert und kollidiert.

Die regressive Tendenz des Landes verschuldet sich weniger der Unübersichtlichkeit als einem erheblichen Maß an Unbewusstheit. Ihr verdanken wir Symptome wie die kollektive Hohenzollern-Fantasie. Zwar ist, wie der Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann erkannte, nichts schwieriger für eine Gesellschaft, als sich selber Diagnosen zu stellen. Versucht werden muss das, denn die gegenwärtige Unbewusstheit gilt es aufzulösen, um zukunftstauglichere Pläne zu entwickeln.

Zu Recht fragen die Weihnachtsredner auf den Kanzeln, warum Steuerzahler milliardenschwere Care-Pakete an Konzerne senden sollen, während in den Kindergärten an jedem Buntstift gespart wird. Aber noch beschweren wir Steuerzahler uns nicht einmal über die Stadtschlossmillionen, zu denen wir beitragen sollen. Treuherzig kaufen wir Unterhaltungselektronik, damit es zu Hause, im Rückzugsgebiet des postmodernen Biedermeier, gemütlich wird.

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