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Meinung: Fleischbeschau im Arbeitslager

Roger Boyes, The Times

Die Grüne Woche war schon immer ein Höhepunkt in meinem Leben. Und das nicht nur, weil Politiker dort der uralten Nervenprobe ausgesetzt sind: hintereinander weg Slibowitz, Apfelwein, Ökobier und Kartoffelschnaps testen, ohne vollkommen besoffen zu werden. In diesem Jahr haben Horst Seehofer und Klaus Wowereit den Promilletest offenbar ganz gut überstanden – obwohl ich nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, wann der Regierende Bürgermeister gerade beschwipst ist und wann nicht.

Der Reiz der Grünen Woche liegt darin, dass sie Berlin ein wenig kecker macht. Trotz des Schnees auf der Erde (wo kommt der nur wieder her?), sind Frühlingsgefühle in der Luft. Die Anzeigen für Sexclubs in den Boulevardzeitungen bieten Preisnachlässe für Obstbauern an (eine Anspielung an den Apfel, den Eva Adam angeboten hat?), BVG-Busse machen Werbung für Artemis, Berlins neuesten Puff. Und die Steakhäuser sind vollgepackt mit Fleischfressern aus der Provinz.

Vor dem „Blockhouse“ am Adenauerplatz bildet sich eine Schlange, alles Viehbauern aus Franken. Sie waren so hungrig, dass ihre Mägen wie Waschmaschinen schleuderten. Diese Botschafter aus dem Becksteinland sahen aus, als könnten sie eine Kuh umbringen. Einige von ihnen hatten vermutlich genau das getan, bevor sie sich nach Berlin aufgemacht haben zu den Fleischtöpfen der Grünen Woche.

Eigentlich hege ich einen Grundverdacht gegen Restaurants, die sich „Blockhaus“ nennen. Das klingt zu sehr nach Arbeitslager („Vortreten, Gefangener Boyes! Meldung am Blockhaus 3 machen!“). Doch dann hat mir jemand erklärt, dass sie nach ihrem Eigentümer benannt sind. Eugen Block hat offenbar keine Minderwertigkeitsprobleme. Und da es nun gefahrlos erschien, dort hineinzugehen, habe ich mich auf die Spur nach einem alten Geheimnis Berlins begeben: Wie kann eine Stadt, die der Rinderwahnsinn jahrelang in Angst und Schrecken versetzte, plötzlich zu einem gierigen Rindfleischkonsumenten mutieren? Jedes andere Restaurant ist geradezu gezwungen, die Gäste zu entführen und ihnen unter Gewaltandrohung die günstigen Gerichte aufzudrängen. Doch vor den Maredos, Churrascos und Blocks bilden sich Schlangen wie vor dem Kassenhäuschen eines Robbie-Williams-Konzerts.

Meine neuen Freunde aus Franken können sich an jede einzelne deutsche Panikwelle der vergangenen Jahre erinnern, da sie alle Auswirkungen auf die Grüne Woche hatten, von der Schweinepest bis zur Vogelgrippe. Aber das Schlimmste war BSE, der Rinderwahnsinn. Der Logik nach sollten die Deutschen eine Generation lang kein Rindfleisch mehr anfassen. Sie tun es dennoch, und dafür gibt es zwei Erklärungen: Erstens, die Deutschen haben eine Schwäche für ehrliches Essen. Man kann nicht betrogen werden, wenn vor einem ein gegrillter Brocken Rumpsteak abgestellt wird, der eindeutig als deutsch oder argentinisch deklariert ist. Zweitens, wenn man gut auswählt, ist es für einen einzelnen Menschen billiger, im Steakhaus zu essen, als zu kochen. Bei 5 Euro 99 – dazu gehört im San Diego Steakhouse Suppe, ein kleines Sirloinsteak, Salat und kleines Getränk – vergeht einem sogar die größte Nahrungshysterie der vergangenen 20 Jahre.

Ich vermute, es gibt weit zurückgehende Gründe für die deutsche Panikliebe. Aber wie kann sich eine Nation so sehr von Minirisiken gefangen nehmen lassen? Konkret: Wieso glaubt man hier noch immer – mitten in der neuen globalisierten Welt –, dass der Staat für die Risiken zuständig sei? Es hat etwas Beunruhigendes, dass die 24-stündige Medienberichterstattung Angst anfüttert, sie zu einem Höhepunkt bringt und dann vom Staat Taten fordert. Beispiel: Eine steife Brise über der Nordsee, und schon schließen in Berlin die Schulen. Absurd. Kinder sollten lernen, mit dem Wetter zu leben, nicht, sich vor ihm zu verstecken. Bei Erwachsenen verfliegt Panik recht schnell, aber bei Kindern bleibt die Angst. Wir Erwachsene sind vielleicht schon Gefangene einer medialen Hysterisierung, aber wir sollten unsere Schwächen nicht an unsere Kinder weitergeben. Die sollen mutig werden, risikobewusst, aber autonom.

Ich verließ das „Blockhouse“ lange vor den fränkischen Bauern – es gibt auch für englische Mägen eine Rindfleischgrenze – und kaufte mir die Abendausgabe der Zeitung. „Gammelfleischschock“ lautete die Überschrift. Ich lachte und ließ die Zeitung im Bus. In der ganzen Zeit hatte ich Magenkrämpfe. War es die deutsche Krankheit?

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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