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Meinung: Flucht ins Übermorgen

G-8-Gipfel: Die Dramen der Zukunft verstellen den Blick auf das Grauen der Gegenwart

Ein Mann steht nachts unter einer Laterne. Sein Nachbar kommt und fragt: „Was machst du?“ – „Ich suche meinen Haustürschlüssel.“ – „Wo hast du ihn verloren?“ – „Da hinten, im Gebüsch.“ – „Und warum suchst du ihn hier?“ – „Weil es heller ist.“ Der Witz ist nicht ganz frisch, aber er hilft, den G-8-Gipfel zu verstehen. Es ist ein Gipfel der guten Absichten, ein Beschwichtigungs- und Ablenkungsgipfel. Die Dramen der Zukunft verstellen den Blick auf das Grauen der Gegenwart.

Eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz strebt Angela Merkel an. Sie sagt, es gehe um „die Lösungen für große Herausforderungen der Menschheit“. Nichts Geringes also. Ihre sieben Themen ranken sich um das Leitmotiv „Wachstum und Verantwortung“. Die Agenda klingt, als sei sie von Attac entworfen worden, den G-8-Kritikern.

Krieg, Terror, Islamismus, Nahost, Proliferation: Diese Stichworte werden in Heiligendamm allenfalls hinter verschlossenen Türen verhandelt. Das ist ein Novum. Seit 2001 gehörten sie zum festen Repertoire aller G-8-Treffen. Fairerweise muss man dem deutschen Außenminister zugute halten, dass er die Vertreter Afghanistans und Pakistans eingeladen hat. Außerdem findet demnächst ein Krisentreffen des Nahost-Quartetts statt. Die Situation im Gazastreifen und im Nordlibanon sei „äußerst besorgniserregend“, heißt es.

Wohl wahr. Vierzig Jahre nach dem Sechstagekrieg und dem Beginn der israelischen Besetzung sind die Aussichten für die Palästinenser düsterer denn je. Sie zerfleischen sich gegenseitig, im Gazastreifen herrschen Hass und Anarchie. Alle Pläne in Richtung Selbstverwaltung und Eigenstaatlichkeit verschwinden in Utopia.

Anderswo in der Region ist die Lage noch explosiver. Die US-Marine hält vor der Küste Irans ihr größtes Manöver seit Beginn des Irakkriegs ab. Denn Teheran ist dichter an einer Atombombe, als jemals befürchtet wurde. Die meisten technischen Probleme seien gelöst, bilanzieren die Experten der Internationalen Atomenergieorganisation. Für den UN-Sicherheitsrat läuft die Zeit ab. Und dann?

Im Irak tobt ein Bürgerkrieg. Ein Konzept zur Befriedung des Landes hat keiner. Sollten die US-Soldaten abziehen, würden sich die Dschihadisten ebenfalls auf den Weg machen – nach Afghanistan. Dort melden sich die Taliban ohnehin mit Macht zurück. „Wenn nicht ich, dann mein Sohn, wenn nicht der, dann mein Enkel“, sagen sie über die Chancen einer Reislamisierung. Aussitzen lassen sich die Gotteskrieger von der Nato gewiss nicht. Doch was sonst?

Über all das müssten die Chefs der G-8-Staaten offiziell reden. Auch das trüge zu einer Globalisierung mit menschlichem Antlitz bei. Der Einwand, solche Gespräche führten zu keinem Ergebnis, zählt nicht: Ist denn etwa zur globalen Erderwärmung mehr als eine unverbindliche Absichtserklärung zu erwarten? Klima, Afrika, Armut: Das sind drängende Probleme. Das Licht der Laterne fällt auf sie. Doch auf der Suche nach ihren Haustürschlüsseln sollten die Weltenlenker das dornige Gebüsch nicht scheuen. Und sei es nur als Signal, dass die Begeisterung für das Nachhaltige nicht auch ein Verhängnis sein kann.

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