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Flüchtlingstragödie: Großer Grenzverkehr

Mit den Grenztruppen von Frontex lassen sich die humanitären Katastrophen im Irak, in Afghanistan oder Somalia nicht lösen.

Mit der Urlaubsstimmung der Touristen war es vorbei, als das Meer vor zehn Jahren die ersten Toten an die Strände Fuerteventuras anschwemmte – ertrunkene Flüchtlinge aus Marokko und dem Senegal. Ihre überladenen, verrotteten Boote waren im Sturm gekentert. Andere wurden bei Nacht vor der Küste von Schleppern ausgesetzt und kamen in der Brandung um. Seit damals können auch die, denen Afrika und Hunger, Elend und Chancenlosigkeit dort völlig egal sind, nicht mehr die Augen davor verschließen, dass die Festung Europa vielleicht eines Tages nicht mit militärischen, sondern mit ganz friedlichen Mitteln erobert wird. Und dagegen können die USA wirklich nicht helfen.

Vor zehn Jahren gab der Atlantik vor den Kanaren nicht alle toten Flüchtlinge frei. Die meisten Katastrophen geschahen in der Dunkelheit, im Verborgenen. Vor der Küste von Lampedusa aber, auf halber Strecke zwischen Tunesien und Sizilien, vollziehen sich die Tragödien nun unter den Augen der Passagiere großer Fahrgastschiffe, beobachtet von Kriegsschiffen aus vielen Ländern, argwöhnisch verfolgt von der italienischen Küstenwache. Die Invasion der Habenichtse rollt nicht, wie alte Drehbücher und Bestseller noch fabuliert hatten, über die Meerenge von Gibraltar an, sondern über das offene Meer. In Richtung Kanaren waren vor allem arbeitslose Fischer aus Schwarzafrika die bereitwilligen Schlepper gewesen – die von der EU hoch subventionierten Fischfangflotten hatten die Gewässer vor den Küsten Senegals und Mauretaniens leer gefischt und den Einheimischen die Existenzgrundlage zerstört, da wurde Menschenschmuggel die lukrative Alternative.

Jetzt hat der vorübergehende oder anhaltende Zusammenbruch der staatlichen Ordnung in Tunesien, Ägypten und Libyen den Menschenschmugglern Auftrieb gegeben. Wer sich aber in Brüssel, Straßburg oder einer der Hauptstädte der EU-Länder einbildet, das Problem löse sich schon von selbst in dem Tempo, in dem in den südlichen Anrainerstaaten des Mittelmeers wieder eine funktionsfähige Exekutive arbeiten könne, der irrt. Der Wohlstand des Nordens wird immer mehr Menschen im Süden zu waghalsigen Einwanderungsversuchen animieren. Weil es die Stärksten und die Jüngsten sind, die kommen, schwächen sie ihre Heimat doppelt, denn der schleppende Aufbau eines funktionierenden Wirtschaftssystems in den Ländern Nordafrikas wird noch einmal verlangsamt, wenn sich die künftigen Leistungsträger absetzen. In Europa haben sie, nach geltender Rechtslage, nur selten eine Zukunft – und ihre alte Heimat versinkt tiefer und tiefer in einer traurigen Vergangenheit.

Was kann Europa dagegen tun? Zum einen mit Sicherheit keine Appeasementpolitik gegenüber Terrorregimen wie dem Gaddafis betreiben. Dessen Soldateska jagt gerade hilflose Menschen in die Boote, um der EU zu bedeuten, dass es nur mit dem Diktator wieder Ruhe auf Lampedusa geben könne. Das Gegenteil ist wahr. Nur wenn die Menschen in Libyen, wie schon in Tunesien und Ägypten, endlich die Perspektive eines Lebens in Würde erkennen, bleiben sie in ihrer Heimat. Die verlässt ja keiner ohne blanke Not. Europa muss also die demokratischen Kräfte in Kairo und Tunis so konsequent und massiv stützen, wie es bereit war, Gaddafi zu stoppen.

Zum anderen muss die Europäische Union den Flüchtlingen eine Perspektive innerhalb ihrer Grenzen geben, ob nur für einige Jahre oder auf Dauer, bleibt abzuwarten. In jedem Fall sind es politisch Verfolgte, die man weder abschieben noch zurückschicken kann. Und schließlich geht es um innereuropäische Solidarität. Italien klagt zu Recht über die Belastung auf Lampedusa, hat aber als Land in Relation zur Einwohnerzahl weit weniger Migranten Schutz gewährt als etwa Norwegen, Belgien, die Niederlande, Schweden, Deutschland oder Frankreich.

Mit den Grenztruppen von Frontex jedenfalls lassen sich die humanitären Katastrophen im Irak, in Afghanistan oder Somalia so wenig lösen wie die Lebensbedingungen in Russland oder Serbien verbessern. Das aber sind die Staaten, aus denen seit Jahren die meisten Asylbewerber in die EU-Länder kommen.

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