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Meinung: Forscher Kanzler

Von Tissy Bruns

Gerhard Schröder ist ein guter Sozialdemokrat: Er hat immer zu denen gehört, die einem Fortschrittsbegriff anhängen, der die Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik grundsätzlich nutzen will. Diesen Standpunkt hat er auch bei der Stammzellforschung vertreten; offensiv durchgefochten hat er ihn allerdings nie. Eine Niederlage war nicht nur wegen des grünen Koalitionspartners wahrscheinlich – die Auseinandersetzung mit der Atomkraft hat der Fortschrittsgläubigkeit der SPD einen Schlag mit nachhaltiger Wirkung versetzt. Aus ethischen und aus Gründen der Risikobewertung plädiert gegenwärtig eine Mehrheit der Partei in der Biopolitik für eine Selbstbegrenzung des menschlichen Entdeckerdrangs. Die SPD muss bei der Stammzellforschung unvereinbare Standpunkte aushalten, ähnlich wie die Union. In beiden Volksparteien will nur eine Minderheit die Liberalisierung. Die Koexistenz dieser beiden Haltungen ist nicht leicht, weil beide hochmoralisch motiviert sind. Der Mehrheit geht es nicht um Fortschrittsverweigerung, der Minderheit nicht um den schnöden wirtschaftlichen Nutzen – aber derlei wirft man sich im Eifer des Gefechts schnell gegenseitig vor.

Insofern ist Schröders glasklare Intervention für eine liberalisierte Forschung in Deutschland erstaunlich. Warum gerade jetzt einen weiteren Streit riskieren? Könnte sein, dass Schröder einen ModernisiererAkzent setzen will, für einen Wahlkampf, in dem Rot und Grün getrennt marschieren. Sieben Jahre der Kompromiss- und Mehrheitssuche mit und in der SPD liegen hinter dem Bundeskanzler. Jetzt verwandelt er sich wieder in den Wahlkämpfer, der erfolgreich gerade deshalb war, weil er immer auch Abstand zu seiner Partei gehalten hat.

Doch womöglich ist das nur eine nachträgliche Rationalisierung, die den Festredner Schröder überhaupt nicht beschäftigt hat. Er nutzt einfach den Vorteil des Machtverzichts, die Freiheit zu sagen, was er denkt. Die biologische Fakultät der Universität Göttingen hat ihm die Ehrendoktorwürde verliehen. Wer wollte nicht verstehen, dass Schröder ausgerechnet hier seine Meinung nicht hinter ausgewogenen Formeln verstecken mag: In Göttingen hat der Absolvent des zweiten Bildungswegs studiert.

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