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Fraktionszwang im Bundestag: Wer abweicht, ist ein guter Europäer

Der Streit um das Rederecht der Abweichler im Bundestag zeigt, dass die demokratische Kultur bedroht ist.

Wie hatte es Kommissionspräsident Barroso so eindeutig freimütig formuliert: Der Euro muss gerettet werden, koste es Europa, was es wolle. Gedacht hatten dabei alle wohl an Geld, an immer mehr Geld für immer größere Rettungsschirme. Doch der Streit um das Rederecht der Abweichler im Bundestag macht noch eine andere Rechnung auf: Es kostet nicht nur Euro, die wir nicht haben, sondern auch demokratische Kultur, die angebliche Grundlage dieses zu rettenden Europas.

Dass erst der Bundestagspräsident dafür sorgen musste, den Abweichlern, die über die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren, angemessenes Rederecht zu verschaffen, macht deutlich, wohin dieses Europa unterwegs ist: zu einer Ordnung, die Andersdenkende nur dann zu Wort kommen lässt, wenn ihre Wortmeldung für die weitere Integration unschädlich ist. Getreu Ronald Pofallas kolportierter Einschätzung: „Wenn ich so eine Scheiße höre wie Gewissensentscheidung.“

Statt sich mit den Argumenten der Kritiker auseinanderzusetzen, wollte man ihnen den Mund verbieten. Dass dabei an vorderster Front eben jene Grünen stehen, die einst für mehr parlamentarische Demokratie wie für mehr Bürgerbeteiligung auf die Barrikaden gingen, zeigt auch, warum es nun die Piraten gibt. Wie hatte einst Joschka Fischer einen Präsidenten, der ihm das Wort abschnitt, tituliert: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein großes A…“ Diese Charakterisierung trifft nun die Herren Altmaier und Beck, die Europa zwar nicht erklären können, aber seine Kritiker gern mundtot machen möchten.

Nimmt man hinzu, was am Tage der Abstimmung das TV-Magazin „Panorama“ ausstrahlte, dass bei einer Blitzumfrage unter Bundestagsabgeordneten mit der Ausnahme eines einzigen keiner der befragten Abgeordneten „EFSF“ übersetzen oder die Summe von 211 Milliarden Euro korrekt nennen konnte, für die Deutschland künftig geradestehen muss, bleibt nur der Schluss: Denn sie wissen nicht, was sie tun.

Und da wundern sich nach jeder Wahl unsere Politiker, dass die Wählenden immer weniger werden und längst der tägliche Zynismus an die Stelle europapolitischer Begeisterung getreten ist. Man muss es nur nebeneinanderstellen: An dem Tage, an dem in Brüssel neue Mechanismen gegen die Schuldenmacherei beschlossen werden, verkündet die frisch gewählte Ministerpräsidentin des Schuldenlandes an der Saar, dass das mit der Schuldenbremse im Grundgesetz natürlich nicht so gemeint sei, wenn die Wirtschaft nicht wachse.

Es ist immer dasselbe. Zuerst werden heilige Eide geschworen, dass der Euro so stabil wie die D-Mark werde und niemand eine Vergemeinschaftung europäischer Schulden im Sinn habe. Danach wird das Gegenteil davon unternommen, natürlich unter dem Druck der Notwendigkeit, Europa zu retten, um anschließend wieder die guten Vorsätze von einst zu verkünden. Mit Ausnahme von Frau Kramp-Karrenbauer im Saarland, die da schon einen Schritt weiter ist.

Noch ist die Tinte unter dem Gesetz über den vergrößerten Rettungsschirm nicht trocken, da berät man in Brüssel und Washington schon wieder über neue noch größere Rettungsschirme, die dann – wir werden es sehen – wieder alternativlos sind. Kein Wunder, dass eine Provinzpolitikerin diese Gelegenheit nutzen möchte, auch noch die lästige Schuldenbremse im Grundgesetz loszuwerden.

Auch hier gilt: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt man gänzlich ungeniert. Wie sagte einer der Kritiker in seinem mühselig vom Bundestagspräsidenten durchgesetzten Debattenbeitrag so richtig: „Man kann nicht Schulden mit immer mehr Schulden bekämpfen.“

Es ist nur ein schwacher Trost, dass dieses Spiel nicht endlos fortgehen kann. Denn Realitätsverweigerung bestrafen die Märkte noch härter als Wunderglauben. Vielleicht wird man den Abweichlern und ihren wenigen Unterstützern vom vergangenen Donnerstag einmal Denkmäler errichten – als wirtschaftspolitische Realisten, gute Europäer und aufrechte Demokraten.

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