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Meinung: Freunde fürs Leben

Jedes Jahr erscheinen allein in Deutschland 80 000 neue Bücher. Dennoch kann ich mich von keinem alten trennen

Als ich ein junger Mensch war und damit begann, mein Taschengeld, das ich durch das Austragen des Evangelischen Gemeindeblattes vermehrte, in Bücher zu investieren, rechnete ich gern hoch, wie umfangreich meine Bibliothek in zwanzig Jahren sein würde. Ich war von diesem Entwicklungspotenzial beeindruckt und freute mich im Vorhinein an dem Gedanken, Herr einer imposanten Sammlung zu werden. Niemals wäre es mir in den Sinn gekommen, ein Mensch könne jemals ein Übermaß an Büchern besitzen und dieses Reichtums womöglich überdrüssig werden.

Diese Haltung habe ich bis heute bewahrt, obschon sie – etwa bei der Wohnungssuche – häufig zu erheblichen Problemen führte; Dachgeschossetablissements mit schrägen Wänden kommen für mich seit vielen Jahren nicht mehr in Frage.

Wer wie ich Bücher mit Stolz anhäuft und zärtlich über ihre gut geformten Rücken streicht, wird irgendwann mit dem Problem ihrer etwaigen Entsorgung konfrontiert. Ist es wirklich notwendig, allen Büchern, die je in meinen Besitz gelangten, ein Dauerasyl in meinen vier Wänden einzuräumen? Warum dürfen Verena Stefans „Häutungen“ bleiben, warum die einst so beliebten Reden des Südseehäuptlings Papalagi, warum Isabel Hörmanns „Quo vadis, Superweib?“, Uwe Seelers „Danke, Fußball!“ oder Nicolaus Sombarts „Über die schöne Frau“?

Ich weiß es nicht. Tief in mir sehe ich selbst die entlegensten akademischen Studien (der Neufundländer in Fontanes Romane!) und die verworrensten Epen als Wegmarken meiner Biografie, und der Entschluss, mich von einem dieser Puzzlesteine zu trennen, erschiene mir als gemeine, unverantwortbare Selbstverstümmelung. Ein Beispiel: Den köstlichen Internatsroman „Immer dieser Fredy!“, den der leider vergessene englische Autor Anthony Buckeridge schrieb, werde ich vermutlich nie wieder lesen. Doch wie furchtbar wäre es, in mein Belletristikregal plötzlich eine klaffende Lücke zu reißen, zwischen Hans Christoph Buch und Georg Büchner! Und wie erlangte ich Sicherheit, meine ausrangierten Buckeridge-Bände in guten Händen zu wissen?

Andere Menschen sehen das anders: Mit Argwohn lese ich, wie die amerikanische Drehbuchautorin Helene Hanff Hand an ihre Bestände legt: „Jedes Jahr im Frühjahr mache ich Bücher-Großputz und werfe die hinaus, die ich nie wieder lesen werde, so wie ich alte Kleider, die ich nie wieder tragen werde, wegwerfe.“

Mit Groll höre ich pragmatisch veranlagten Zeitgenossen zu, die ein Nullsummenspiel betreiben und für jedes neu angeschaffte Buch eines aus dem Haus tragen, ins Antiquariat, zur Diakonie oder zu Ebay. Und mit Ekel wende ich mich von Frauen ab, die in ihren Wohnzimmern partout keine Buchregale dulden – „So viele Bücher erdrücken mich“ – und stattdessen sturzhässliche Vitrinen oder Sideboards aufstellen.

Nein, damit will ich nichts zu tun haben, und selbst meiner eigenen Frau begegne ich mit Skepsis, seitdem sie mit merkwürdig glücklichem Gesichtsausdruck Kartons mit Kriminalromanen auffüllte, die sie „nie wieder“ lesen werde, und diese einem uns persönlich völlig unbekannten Antiquar für einen lächerlichen Betrag in die Hand drückte.

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Ich kann mich nicht von Büchern trennen, und selbst wenn ich die Absicht fassen würde, fiele es mir schwer, eine halbwegs erträgliche Methode der Entsorgung zu wählen. Auch der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar kannte dieses ethische Dilemma und fand, zumindest für eine seiner literarischen Figuren, eine zumutbare Lösung: „Bücher auf gute Art loszuwerden ist ein schwieriges Problem. Manchmal vergesse ich eines absichtlich in der Straßenbahn. Oder auf einer Bank im Stadtpark. Lieber im Stadtpark. Eine schnöde Haltung, nicht? Mir ist auch immer ein bisschen flau dabei zumute. Als beginge ich eine Sünde wider den Geist.“

Alfred Polgars elegante Art, gleichsam zufällig ein nicht mehr benötigtes Buch zu „vergessen“, mag man tolerieren. Alle anderen Wege erscheinen mir seltsam unzivilisiert und Verachtung zu verdienen. Oder würden Sie leichten Herzens ihre alte Reclam-Ausgabe von Schillers „Wallenstein“ in den Hausmüll zu Cornflakespackungen und Käserinden geben, nur weil sie die Schiller-Ausgabe des Aufbau-Verlags subskribiert und deshalb bald genug „Wallenstein“ im Haus haben? Oder fiele es Ihnen leichter, ökologisches Bewusstsein zu zeigen und die einst begierig angeschaffte Sekundärliteratur zu Christa Wolfs „Kassandra“ in den Altpapiercontainer zu werfen? Dorthin, wo Ikea-Kartonagen und die alten Jahrgänge des „Tagesspiegels“ darauf warten, dem normalen Müll zugeführt zu werden?

Wegwerfen, zerreißen, schreddern, verbrennen, zerschneiden – keiner dieser Vorgänge erscheint akzeptabel, und kochte nicht zufällig der bibliophile Volkszorn hoch, als der „Spiegel“ auf seinem Cover einst Marcel Reich-Ranicki zum Günter-Grass-Reißwolf machte? Selbst wenn Denis Scheck in seiner Sendung „Druckfrisch“ nicht wirklich gelungene Bücher kurzerhand ins Jenseits befördert, gibt mir dies einen Stich – sogar bei Susanne Fröhlichs „Moppel-Ich“.

Das alles mag altmodisch klingen und kennzeichnet mich als wertkonservativen Traditionalisten, der nicht loslassen kann und sein kümmerliches irdisches Dasein an Besitz kettet. Unsere Ex-und-hopp-Gesellschaft setzt andere Prioritäten, das ist mir bekannt, und wahrscheinlich entstand diese mir so fremde Haltung zu einer Zeit, als das „Lean Management“ aufkam und sich mit esoterischem Gesäusel wie „Man muss sich von allem trennen, um innerlich frei zu werden“ auf schreckliche Weise verband. Warum auch sollte man bei ständig steigenden Scheidungsquoten Bücher ein Leben lang hegen und ihnen Treue entgegenbringen?

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Diese persönlichen Betrachtungen täuschen nicht darüber hinweg, dass es zu viele Bücher gibt. Seit der im 18. Jahrhundert aufkommenden „Lesewut“ gehört es zum festen Bestandteil kulturkritischer Äußerungen, sich über die sinnlos zunehmende Produktion zunehmend sinnloser Bücher zu beschweren. Niedergang ist überall, und so finden sich in jeder Epoche Stimmen, die eine Reduktion der Bücherherstellung fordern. Rund 80 000 Titel erscheinen allein in Deutschland Jahr für Jahr, und jede Buchmesse zeugt auf nicht immer schöne Weise davon, dass das Verfassen von Druckschriften auch in Zeiten des Internets nichts an Attraktivität verloren hat. Wer schreibt, bleibt – und sei es auch nur einen Sommer lang.

Vor allem in ökonomisch schwierigen Zeiten gehen die deutschen Verleger in sich und erklären mit feierlicher Miene, die Titelzahl in ihren Häusern drastisch zu senken. So richtig zu merken ist diese Programmpolitik dann eigentlich nie, und so haben wir kurz darauf, ehe man sich versieht, wieder einmal 80 000 frische Bücher produziert.

Deren Verweildauer im Sortiment nimmt rapide ab, und nach drei, vier Monaten entsteht die Begierde im Buchhändler, seine gerade aufgefüllten Regale wieder zu leeren und die meist noch eingeschweißten Novitäten zu remittieren. So werden Romane, an denen ästhetisch feinsinnige Autoren jahrelang feilten, binnen kürzester Zeit zu Ladenhütern, die verramscht oder – welch schreckliches Wort! – makuliert werden.

Für Schriftsteller hat dies dazu geführt, dass sie, wenn sie Glück haben, durch Stipendien, Stadtschreiberposten oder Preise weiterhin ihren Beruf ausüben dürfen. Auf Leser freilich müssen sie meist verzichten.

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Romane kommen und gehen in immer schnelleren Abständen, und kaum einer nimmt von diesem Kommen und Gehen Notiz. Es genügt, einen Blick auf die belletristischen Novitäten des Jahres 1995 zu werfen, um zu sehen, wie schnell vergessen ist, was in Dichterstuben geschrieben und in Verlagszimmern auf den Weg gebracht wurde. Nichts bleibt von diesen Büchern, und nur gütige Menschen wie ich räumen ihnen ein Verweilrecht in der häuslichen Bibliothek ein.

Die Bücherberge wachsen, und so nimmt es nicht wunder, dass auch die Verantwortlichen in öffentlichen Bibliotheken Maßnahmen ergreifen, ihren kostbaren Lagerraum freizuschaufeln. Für Aufsehen sorgte unlängst Andreas Anderhub, Direktor der Mainzer Universitätsbibliothek, als er anregte, vermeintlich überflüssige Titel seiner Sammlung für die Entsorgung vorzuschlagen. Dem Mainzer Großreinemachen sollen, so das Ausscheidungskriterium, alle vor 1990 erschienenen Bücher zum Opfer fallen, die während der letzten 15 Jahre vergeblich auf studentisches oder professorales Ausleihbegehren warteten.

Banausen- und Barbarentum warf man dem nüchtern denkenden Direktor Anderhub daraufhin vor, und in der Tat scheinen seine Entsorgungsrichtlinien nicht zu berücksichtigen, dass wissenschaftlicher und literarischer Ruhm nicht selten mit Verzögerung eintritt. Das Nicht-Ausleihen eines Buches gibt keinen definitiven Aufschluss über seine – vielleicht sehr verborgenen – Qualitäten.

Ich selbst zum Beispiel setze bis heute fest darauf, dass die erzählerische Kraft meines 1980 erschienenen Prosadebüts „Der Tod der Pferde“ demnächst erkannt wird – auch wenn die Ausleihfrequenzen bislang unbefriedigend sind. Immerhin hat zumindest die Stadtbücherei meiner Heimatstadt Heilbronn bislang davon Abstand genommen, diese geschliffenen Erzählungen auf dem „Wolfszipfel“, der städtischen Müllhalde, zu entsorgen.

Herr Anderhub wird seine budgetären und logistischen Gründe haben, sich für die Entledigung ungeliebter Bestände auszusprechen. Persönlich möchte ich mit ihm nichts zu tun haben. Denn es wäre ihm ein Leichtes, meine Regalwände abzuschreiten und mich jene Titel nennen zu lassen, die ich seit fünfzehn Jahren nicht mehr gelesen oder nur zu Umzugszwecken bewegt hatte.

Ja, es gibt sie, diese ruhenden Schätze. Claus Mühlfelds „Sprache und Sozialisation“ gehört dazu oder Meinrad Inglins „Begräbnis eines Schirmflickers“. Doch wer sagt mir, dass dies immer so bleiben wird? Könnte es nicht Revolutionen in meiner geistigen Entwicklung geben, die plötzlich zu ungeahnten Claus-Mühlfeld- und Meinrad-Inglin-Renaissancen führen? Und was wäre dann, wenn ich diese Bedürfnisse nicht sofort befriedigen könnte? Nein, nein, die beiden Herren behalten ihre Plätze, stets bereit, mich aufs Neue zu locken.

Und nicht zuletzt: Die Lagerhaltung in der Mainzer Universitätsbibliothek muss sich um ästhetische Ansprüche nicht kümmern. Bei mir zu Hause sieht das anders aus: Hier halte ich es wieder mit Alfred Polgar, der wusste, was einen Bibliophilen freut: „Immerhin sind Bücher ein Zimmerschmuck. Gern genießt das Auge die Exaktheit ihrer ausgerichteten Linien und erfreut sich der Farbigkeit der Trachten. Am linken Flügel die Großen, am rechten die Kleinen, gestellt zum Parademarsch des Geistes. Wie glänzend die Fähnchen der gesammelten Werke! Wie bunt und malerisch abgerissen das Gewimmel des broschierten Volks!“

So ist es, und so soll es bleiben. Machen Sie mit Ihren Büchern, was Sie wollen, oder verbünden Sie sich mit Direktor Anderhub. Ich hingegen kaufe mir jetzt gleich ein neues Buch, zum Beispiel Evelyne Polt-Heinzls „Bücher haben viele Seiten, Leser haben viele Leben“ aus dem Wiener Sonderzahl Verlag. Irgendwo bringe ich das schon unter.

Rainer Moritz

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