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Meinung: Fußball und Vaterland

Regierung und Opposition sind der Reformen überdrüssig – weiche Themen müssen her

An der Spitze will das politische Spitzenpersonal stehen, den normalen Menschen also gedanklich und politisch voraus sein. Häufiger ist zwischen Politik und Volk nur eine banale Zeitverschiebung zu sehen: Die politische Öffentlichkeit hat innerlich längst abgehakt, was den Leuten praktisch noch bevorsteht. Nach dieser Haushaltswoche lautet der Befund: Regierung und Opposition bewegen sich gewissermaßen „zwischen den Jahren“. Und dieser Zustand wird anhalten, vor allem für die rot-grüne Bundesregierung.

Für die Opposition ist absehbar: Wenn Angela Merkel ihren Parteitag in der ersten Dezemberwoche hinter sich hat, wenn der Gesundheitskompromiss beschlossen, die CDU-Parteichefin wiedergewählt ist, kann sie in den Normalgang zurückschalten. Das hieße: Die Freiheit der Opposition nutzen, mehr behaupten zu dürfen als nachweisen zu müssen und Rot-Grün in zwei Wahlniederlagen jagen. Im Februar in Schleswig-Holstein, im Mai in Nordrhein-Westfalen. Schwer genug, aber überschaubar.

Für die Bundesregierung liegen die Dinge komplizierter. Die Werte der SPD ziehen weiter an, auch die des Bundeskanzlers – neben der Schwäche der Union ist die reformerische Standhaftigkeit die wesentliche Ursache dafür. Deshalb gibt es für die Bundesregierung keinen Normalgang, sondern nur das schwer vermeidbare Risiko, zu viel oder zu wenig zu tun. Die Konsequenz, mit der Schröder („Ich kann keine andere Politik“) seine Reformagenda durchzieht, hat ihm neuen Respekt eingetragen. Populär sind die Reformen trotzdem nicht; das Bedürfnis nach radikalen Einschnitten hält sich in der Bevölkerung in engen Grenzen.

Aus dieser Lage entstehen gegensätzliche Erwartungen. Schröders politisches Lager und die Wirtschaft werden im Vorfeld der beiden Landtagswahlen neue Aktivitätsnachweise des Reformkanzlers einfordern. Das Volk dagegen rechnet, beobachtet und wartet ab, was die längst beschlossenen Reformen, am eigenen Leib erlebt, denn wirklich bringen. Hartz IV? Hunderttausende überlegen in diesen Wochen, ob es sich überhaupt lohnt, den 16-Seiten-Antrag für das Arbeitslosengeld II auszufüllen. Noch mehr Familien werden nach dem Jahreswechsel ihre private Haushaltspolitik gründlich überdenken müssen. Und während die politische Klasse den mangelnden Reformeifer des Kanzlers kritisiert, erleben viele Menschen, dass sie länger arbeiten und weniger verdienen – aus Gründen, die mit ihrem Betrieb und gar nichts mit dem folgenlosen politischen Streit über Feiertage und Arbeitszeit zu tun haben.

Bei Regierung und Opposition ist erkennbar, wie über die Mittel nachgedacht wird, um diese Erwartungskluft zu überbrücken: mit den „weichen“ Themen. Angela Merkel wird ihren Parteitag mit Patriotismus, Werten und Leitkultur aufladen. Im Kanzleramt wird die Mixtur aus Bildung, Innovation, Familie, Zuwanderung und einem Spurenelement Patriotismus versuchsweise immer mal wieder durchgerüttelt. Die Krönung soll die Fußball-Weltmeisterschaft im Wahljahr sein. Ein Großereignis kollektiven deutschen Selbstbewusstseins, das Opposition und Wirtschaft das ewige Schlechtreden des Standorts Deutschland sehr schwer machen wird.

Doch in harten Zeiten sind auch solche Themen nicht richtig weich. Denn die Menschen spüren die Absicht und sind verstimmt, wenn Patriotismus, Fußball und Werte als Ersatzstoff und Stimmungsaufheller herhalten müssen. Und auf den zweiten Blick zeigt sich: Wer bei Bildung, Familie, Leitkultur wirklich etwas will, der muss harte politische Fragen stellen, nach Geld und Prioritäten. Der Streit um die Integration ist lächerlich, wenn er als Wettbewerb um den ausländerfreundlichsten (oder -feindlichsten) Eindruck geführt wird. Wer das bessere Familienleitbild hat, ist fast gleichgültig, wenn so wenige Familien gegründet werden wie in Deutschland. Wenn über Werte diskutiert wird, wollen die Bürger vor allem eins wissen: Was bleibt, wenn wir uns so verändern? Wo verläuft die Grenze zur Übermacht des Ökonomischen und wer kann sie ziehen?

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