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Meinung: Gastkommentar: Der diskrete Charme der Bürokratie

Nur mal angenommen, mich würde heute ein Auto in Berlin anfahren - kann ich mir das überhaupt erlauben? Eine dringende Frage.

Nur mal angenommen, mich würde heute ein Auto in Berlin anfahren - kann ich mir das überhaupt erlauben? Eine dringende Frage. Ich greife zum Telefon. Herr K. von der deutschen Krankenkasse verlangt das Formular E 101, um mir einen Krankenschein für Deutschland auszustellen. Madame B. in Paris von der französischen Krankenversicherung schwört dagegen, dass E 106 ausreicht, das sie gleich an mich abschicke. Man hätte es auf sich beruhen lassen können, auf dem banalen Niveau administrativer Inkompatibilität, wenn nicht . . - ja, wenn mein kleines Problem nicht unverhofft zu einem deutsch-französischen Duell angewachsen wäre.

"Ich würde mich glücklich schätzen, wenn Frankreich Ihre Krankenhauskosten von vor drei, vier Jahren erstattete", lässt Herr K. einfließen und gibt damit - was am meisten schmerzt - seinen klaren Blick für die chronische Lähmung der französischen Bürokratie preis. Das lässt mich schaudern, und so greife ich zum Hörer und wähle die Nummer von Madame B. Sie wird kategorisch: "Deutschland hat hier gar nichts zu sagen. Frankreich kommt für Sie auf. Und damit basta!" Ich rufe Herrn K. an, der auch nicht nachgibt. Völlig außer Fassung wende ich mich abermals an Madame B., die in majestätischem Ton donnert: "Madame, Frankreich lässt Sie nicht im Stich!" Erschöpft und verwirrt blicke ich auf die Papiere vor mir. E 101? Oder vielleicht doch E 106? Die Zahlen verschwimmen.

Ich versuche mir die beiden vorzustellen. Herr K. hinter seinem Schreibtisch in der Karl-Marx-Allee, die Stulle und den Schokoladeriegel in der Tupperware, wie er auf die Mittagspause wartet. Mit preußischer Genauigkeit respektiert er die Bedeutung von Artikel 17 des Vertrags über die Europäische Gemeinschaft. Und die glanzvolle Madame B., die von ihrem Büro in Bercy die Seine überblickt, Inkarnation nationaler Macht, die wie ein Muttertier die Expatriierten der République umsorgt, als wären es ihre eigenen Kinder. - Lenkt Herr K. am Ende ein? Auch in den vertracktesten Situationen gibt es diese wundervolle Minute, in der sich alles wendet: Mir wird ein Krankenschein gewährt - ausnahmsweise und in der Erwartung, dass Frankreich geruht, meine Lage zu klären. Ich atme auf. Und finde meinen Schlaf wieder. Nun kann ich es wieder wagen, mit großen Schritten Berlin zu durchqueren...

bis gestern morgen ein charmanter junger Mann mit sprachlicher Eleganz den Albtraum wiederbelebte. Mein Verlagshaus in Paris verlangt das Steuerformular RF 3, im Original, vierfache Ausfertigung, ausgestellt von einem deutschen Finanzamt. "Wie kann ich es bekommen?" Meine arglose Frage machte den jungen Mann perplex. "Haben Sie zwei Minuten", erkundigte er sich dann, schaltete auf Rückfrage und verschwand im Labyrinth der viel zu engen Büros. Drei Minuten, und ich hatte meinen Cappuccino ausgetrunken. Fünf Minuten: Ich betrachtete die wogenden Narzissen auf meinem Fensterbrett. Sieben Minuten - ich fragte mich, wann der Frühling endlich auch Berlin erreicht. 7 Minuten, 30 Sekunden, ich hatte die Uhr in der Hand, der junge Mann meldete sich mit lieblicher Stimme zurück: "Ich kann es Ihnen nicht sagen. Vielleicht sollten Sie mal das deutsche Finanzamt anrufen?" Liebenswürdigerweise wünschte er mir einen schönen Tag, bevor er auflegte.

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