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Ein türkischer Junge sitzt vor der Beschneidungszeremonie im traditionellen Gewand in einer Moschee.

© dapd

Gastkommentar: Die Beschneidung steht für Vereinnahmung und Unterwerfung

Gegen die Unterdrückung, Erniedrigung und Ausbeutung von Frauen gehen wir entschlossen vor. Das Beschneidungsritual dagegen soll unantastbar bleiben. Es wird mit zweierlei Maß gemessen, obwohl es um das Gleiche geht.

Gustav Wolle, mein Großvater, ein Berliner und Jude, aß gern Schinken vom Schwein und ging nicht in die Synagoge. Die Gesetze der Thora betrachtete er mit mildem Spott. Aber natürlich war er beschnitten. Ebenso wie seine beiden assimilierten Söhne, die mit der Religion ihrer Vorväter ebenfalls nichts mehr am Hut hatten. Dem uralten Ritual hatte sich die Familie dennoch unterzogen. So viel Judentum, immerhin, musste damals, vor dem Dritten Reich, noch sein.

Wenn in unserem später protestantisch geprägten Haus davon die Rede war, erklärte die Mutter, die alten Juden hätten das Verfahren aus hygienischen Gründen erfunden. Von dem Bund mit Gott, den das Opfer des Zipfelchens besiegeln soll, sprach niemand. Ich glaube, sie wussten nichts davon.

Heute wissen es alle, seit die Kölner Richter den Akt der Beschneidung eines muslimischen Jungen als Körperverletzung einstuften. Bis dahin nahmen wir es einfach hin. Jetzt sind alle hellwach in dieser Frage. Der Friede mit den religiösen Minderheiten droht zu zerbrechen. Schließlich geht es um die göttliche Wahrheit.

Video: So denken die Berliner über das Beschneidungsurteil

Das Problem ist, dass die Wahrheit der einen oft die Wahrheit anderer widerlegt. Wenn es schlimm kommt, führt das zu Mord und Totschlag. Im aktuellen Fall stehen geheiligte Gewohnheiten gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Damit steckt der deutsche Staat mächtig in der Klemme. Was juristisch eindeutig erscheint, gilt politisch als höchst anstößig. Undenkbar, dass in dem Land, das Auschwitz zu verantworten hat, das jahrtausendealte Ritual der jüdischen Beschneidung strafbar sein soll. Undenkbar ebenso, die empfindsamen Moslems mit einem Verbot auszugrenzen. Es muss also – vorerst ! – eine Möglichkeit gefunden werden, die Sache wieder in einen Ruhezustand zurückzuführen.

Muss man einen Brauch akzeptieren, nur weil er schon Jahrtausende alt ist?

Bis dahin wird man jedoch nachdenken und ein paar Fragen stellen dürfen. Zuerst, ob ein Brauch deshalb zu akzeptieren ist, weil er schon Jahrhunderte oder Jahrtausende gepflegt wird. Die Unterdrückung, Erniedrigung und Ausbeutung von Frauen ist ebenfalls uralt. Aber wir gehen dagegen vor.

Und weiter: Obwohl die patriarchalischen Zeiten vorbei sind, schließen auch bei den modernen Juden nur die Jungen den Bund mit Gott. Warum nicht die Mädchen? Glücklicherweise, wird man sagen, denn ihnen bleiben viel folgenschwerere Rituale erspart. Aber doch nur, weil sie im Verhältnis zu Gott offenbar keine Rolle spielen. Könnte man also nicht im Umkehrschluss sagen: Wenn die Mädchen kein Hautopfer bringen müssen, weshalb sollen dann die Vorhäute auf den Altar?

Wenn wir den lieben Gott und den lieben Allah beiseitelassen und uns anschauen, worum es den Menschen ging, die solche barbarischen Rituale erfunden haben, fallen mir Begriffe wie Vereinnahmung und Unterwerfung ein. Und zweifelsfrei geht es bei den Genitalverstümmelungen von Frauen, deren Strafwürdigkeit bei uns eindeutig ist, um Unterwerfung.

Ist das im Falle der Beschneidung des männlichen Kindes anders? Nicht ganz. Auch der jüdische Junge wird vereinnahmt und unterworfen. Was geschieht, heißt: Jetzt gehörst du ein für alle Mal zu uns. Eine blutige Taufe. Das moslemische Pendant wäre eine blutige Kommunion oder Konfirmation, ein Initiationsritus. Der wird, im Gegensatz zur Beschneidung des Säuglings, bewusst erlebt und erlitten. Es handelt sich um Kinder, die schon denken, aber nicht selbst bestimmen, geschweige denn sich wehren können.

Peanuts, sagen nun viele. War doch schon immer so. Und wollen wir vielleicht, wie die Kanzlerin wegwerfend meinte, zur „Komiker-Nation“ mutieren, indem wir uns kümmern? Aber vielleicht geht es hier doch um Grundsätzliches, um das elementare Recht von kleinen und sehr hilflosen Wesen, die man wie Prinzen aufzäumt, um ihnen anschließend die Hose herunterzuziehen und die Vorhaut abzuschneiden. Ist das wirklich mit der Würde des Menschen vereinbar? Kann man im 21. Jahrhundert nicht auch ohne solche archaischen Prozeduren ein guter Jude und ein guter Moslem sein?

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