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© dpa

Gastkommentar: Riskante Risikowahrnehmung

Finanzkrise, Schweinegrippe, Terror – viele Gefahren umgeben uns. Doch unsere Furcht davor verrät oft einen Mangel an Realitätssinn.

Das Jahr 2009 wird uns als Jahr des Risikos in Erinnerung bleiben. Zuerst kam die Finanzkrise: Wo immer man sich auch bewegte, überall war die Rede von unübersehbaren, falsch kalkulierten, fehlgesteuerten und unterschätzten Finanzrisiken. Offenkundig wurden mit großem Aufwand Risiken erst geschaffen, in denen die kreativen Risikoerzeuger später selber versanken und nur noch mithilfe der Steuerzahler überleben konnten.

Obgleich viele der sich selbst allzu großzügig bedienenden Finanzhaie in der Öffentlichkeit als „Schweine“ hingestellt wurden, ist mit diesem Tiernamen 2009 ein völlig anderes Risiko assoziiert: die Schweinegrippe. Genau weiß man nicht, wie viele Menschen in Deutschland dieser Grippe zum Opfer fielen, aber die Schätzungen schwanken zwischen 130 und 150. Bei der üblichen saisonalen Grippe sterben pro Jahr zwischen 7000 und 12000 Menschen in Deutschland.

Zum Jahresende holte uns dann wiederum ein neues altes Risiko ein: der Terrorismus. Nur um Haaresbreite konnte ein Anschlag auf ein Passagierflugzeug im Anflug auf Detroit verhindert werden.

Unmittelbar kommt uns der Buchtitel von Ulrich Beck in Erinnerung: die Risikogesellschaft. Ist nicht das vergangene Jahr ein eindeutiger Beleg für die Grundthese des Soziologen, dass im globalen Kapitalismus die allgegenwärtige Gefährdung der Individuen ständig zunimmt und wir nur so von entgrenzten Risiken in allen unseren Lebenslagen umzingelt sind? Nimmt man die Statistik zu Hilfe, dann löst sich dieser Eindruck ins Nichts auf: Auch wenn die endgültigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes für 2009 über Unfälle, Infektionskrankheiten, Terroropfer und andere Lebensrisiken noch nicht feststehen, so lässt sich aus den vorliegenden Daten schon ableiten, dass es im vergangenen Jahr so wenig Opfer wie selten zuvor gegeben hat. Im Straßenverkehr, in der Arbeitswelt, in der Freizeit bis hin zum trauten Heim nimmt die Zahl der tödlichen Unfälle seit zehn Jahren sogar beständig ab. Unser Leben wird sicherer, nicht gefährlicher. Das zeigt sich auch in der weiterhin wachsenden Lebenserwartung für Männer und Frauen. Selbst die schwere Finanzkrise hat sich in Kernbereichen weniger dramatisch ausgewirkt als vermutet. Die Zahl der Konkurse von Unternehmen ging im Verlauf des Jahres 2009 nur geringfügig nach oben (von 22 200 in den ersten neun Monaten des Jahres 2008 auf 24 700 im gleichen Zeitraum des Jahres 2009).

Es wäre also besser, von der Risikowahrnehmungsgesellschaft zu sprechen. Das klobige Wort kommt zwar nicht so leicht von den Lippen wie die Risikogesellschaft, trifft aber den Kern der Sache. Alle reden über Risiken, alle leiden unter Risiken, und alle fordern von Staat und Wirtschaft, mehr gegen Risiken zu unternehmen. Wir haben es uns in der selbst gezimmerten Risikowahrnehmungsgesellschaft bequem gemacht. Nach wie vor sind die größten Lebensrisiken der Menschen in Deutschland mit Alkohol, Rauchen und Übergewicht verbunden – alles Dinge, die das Handeln jedes Einzelnen erforderlich machen. Leichter ist es dagegen, gegen kollektive Risiken zu wettern. Mal ist es die grüne Gentechnik, dann die scheinbar ungerechte Verteilung von Impfstoffen auf Politiker und Normalbevölkerung, mal die Pestizidrückstände in Lebensmitteln, mal der allzu lasche Umgang mit Terrorverdächtigen.

Nur: Alle diese Risiken sind im Vergleich zu Lungenkrebs durch Rauchen, zu Kreislauferkrankungen wegen falscher Ernährung, Unachtsamkeit in Haushalt und Freizeit oder auch riskante Fahrweise marginal. Um nur ein Beispiel herauszugreifen: Durch BSE sind in ganz Europa in den letzten 30 Jahren knapp 150 Menschen ums Leben gekommen, durch die völlig unterschätzten Viren, Pilze und Bakterien in Lebensmitteln aber rund 30 000. BSE ist heute jedermann ein Begriff – geradezu der Inbegriff für Risiken der industrialisierten Landwirtschaft. Natürlich zeigt sich exemplarisch bei BSE, wie unnötige Risiken durch vermeintliche Effizienzverbesserungen und späterer Verdrängung der Symptome erzeugt werden können (Sündenböcke sind keine Unschuldslämmer), aber in der Wahrnehmung der Menschen stimmen die Proportionen nicht mehr. Uns ist der Maßstab für die Verhältnismäßigkeit abhanden gekommen.

Stichwort Schweinegrippe: Niemand konnte Anfang 2009 mit Gewissheit voraussagen, welchen Verlauf diese Grippe in Deutschland nehmen würde (und immer noch nehmen kann). In dieser Situation der Unsicherheit kommen eine Reihe von psychologischen Reaktionsmustern zum Tragen. Zunächst einmal ist allen Verantwortlichen klar: Übertreibe ich das Risiko und treffe mehr Vorbereitungen als eigentlich notwendig, dann kann man mir schlimmstenfalls Verschwendung von Steuergeldern vorwerfen. Das überlebe ich politisch. Unterschätze ich dagegen das Risiko und habe ich im Endeffekt zu wenig Vorbereitungen getroffen (etwa zu wenig Impfstoffe eingekauft), dann muss ich wahrscheinlich zurücktreten. Denn mehr Opfer als notwendig verschuldet zu haben ist psychisch wie politisch eine kaum tragbare Last. Insofern musste jeder damit rechnen, dass von Politik und Behörden eher geklotzt wird.

Gleichzeitig ist aber die absehbare Überreaktion der Politik und der Behörden ein Signal für die Presse, diese Vorbereitungen als Beleg für die Höhe des drohenden Risikos zu nehmen. In der Zeitung waren dann von drohenden Katastrophen mit mehren 10 000 Toten in Deutschland die Rede. Allerdings treffen diese Katastrophenprophezeiungen bei den Medienkonsumenten zunehmend auf Skepsis. Zu oft haben die Bürger bereits die Warnung vor der großen Seuche gehört, ohne dass etwas Dramatisches passiert ist. Sie warten lieber mal ab, ob es wirklich so schlimm kommt.

Zur eigenen Entlastung kommen dann die üblichen Verschwörungstheorien dazu: eine heimliche Allianz der Pharmafirmen, um den Steuerzahler zu melken, eine verschworene Gemeinschaft der Politiker, die die angeblich risikoarmen Impfstoffe für sich alleine beanspruchen und das gemeine Volk zum kollektiven Versuchskaninchen machen. So blieben die Praxen weitgehend leer. Nur die ohnehin Verängstigten und die, die dazu beruflich verpflichtet waren, ließen sich impfen.

Der weitere Ablauf der „Krise“ könnte aus dem Lehrbuch der Risikopsychologie entnommen sein. Es begann mit dem ersten Foto einer jungen Frau, die an Schweinegrippe gestorben war! Dies wirkte als Auslöser für eine ganze Heerschar von Impfwilligen, die Arztpraxen umgehend aufzusuchen. Nunmehr war aber der Impfstoff rar, und viele erhielten zumindest zeitnah keinen Impftermin. Schon wurde darüber spekuliert, dass nicht genügend Impfstoff bestellt worden sei, und manch ein Politiker bekam weiche Knie. Doch obwohl die Zahl der Toten in den kommenden Monaten auf rund 130 anstieg, verblasste das Bild einer wirklich drohenden Gefahr. Die Überlebensquote der an Schweinegrippe erkrankten überstieg um fast das Zehnfache diejenige der normalen Grippe.

In der Wahrnehmung bedeutet das: Nahezu jeder kannte jemanden, der an Schweinegrippe erkrankt war, die aber bis auf ganz wenige Ausnahmen alle wieder gesund wurden (über 99,98 Prozent). Wenn sich viele anstecken, aber nur wenige sterben, ist dies für unsere Wahrnehmung viel entlastender, als wenn sich nur wenige anstecken, diese aber dann mit einer hohen Wahrscheinlichkeit sterben. Dies ist völlig unabhängig von der absoluten Zahl der Opfer. Die zentralen Größen sind Unsicherheit (es kann alles noch schlimmer kommen) und Identifikation mit der Opferrolle (das kann demnächst auch mir oder den Personen, die mir nahestehen, passieren). Wenn viele Personen erkranken und wenig passiert, bedeutet das für die Risikowahrnehmung „Entwarnung“.

Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass wir inzwischen auf der Hälfte der Impfstoffe sitzen geblieben sind. Mehr noch: Viele von denen, die nahezu hysterisch auf die ersten Todesfälle reagiert und händeringend nach einem Impftermin verlangt hatten und auf die Warteliste gesetzt wurden, haben den dann anberaumten Impftermin verstreichen lassen.

Ähnliche Muster erleben wir auch beim Risiko Terrorismus. Solange Terroristen vorzugsweise Personen in hohen öffentlichen Ämtern oder aus gesellschaftspolitisch wichtigen Institutionen angriffen, fühlte sich die Bevölkerung wenig bedroht. Zwar war die Empörung, etwa über die deutsche RAF, groß, aber persönlich bedroht fühlten sich nur ganz wenige. Dies änderte sich schlagartig, als Terroristen die Opfer eher zufällig auswählten.

Bei der Attacke auf das Passagierflugzeug nach Detroit war dem Täter keines der potenziellen Opfer bekannt. Es ging rein um eine ausreichende Zahl an Opfern und um die Botschaft, wir können auch in den USA einen neuen Terroranschlag verüben. Wiederum sind die beiden Faktoren Unsicherheit und Identifikationsmöglichkeit im Spiel: Wir wissen nicht , wann, wo und mit welcher Schlagkraft die Terroristen zuschlagen; und wir haben das Gefühl, wir könnten selbst das zufällige Opfer ihrer Attacke werden. Das schürt Angst und ruft nach Gegenmaßnahmen. Ob diese Gegenmaßnahmen dann aber verhältnismäßig sind gegenüber der objektiven Bedrohung, steht auf einem anderen Blatt.

Damit schließt sich der Kreis. Die Risikowahrnehmungsgesellschaft unterliegt der Gefahr, das Augenmaß für die Verhältnismäßigkeit von Bedrohung, Angst und erforderlichen Gegenmaßnahmen zu verlieren. Das führt zum einen dazu, dass wir allzu leichtfertig Errungenschaften wie Bürger- und Freiheitsrechte einschränken, um minimale Verbesserungen im Schutz gegen Terroristen zu erzielen. Zum anderen führt es dazu, dass wir die Prioritäten falsch setzen. Um das BSE-Beispiel nochmals aufzugreifen: Nach Angaben der EU hat die Reaktion auf das BSE-Risiko die europäischen Länder rund 38 Milliarden Euro gekostet. Zur Reduktion der pathogenen Risiken, wie Salmonellen oder Schimmelpilze, wird nur ein Bruchteil von dieser Summe aufgewendet, obwohl das Todesrisiko dort 200 mal höher ist. Die Liste dieser Beispiele ließe sich fortsetzen.

Was folgt daraus für eine rationale und vorbeugende Risikovorsorge? Die Mechanismen der Risikowahrnehmung sind uns Menschen vorgegeben; sie sind bei Experten und Politikern nicht viel anders ausgeprägt als beim Normalverbraucher. Daher kann es weder um eine Risikosteuerung durch Experten noch um eine bessere Unterrichtung der Politiker über statistische Risikodaten gehen. Auch die Finanzhaie wussten genau, dass sie riskant spielten. Sie glaubten nur, klüger und schneller zu sein als die anderen.

Vielmehr muss es darum gehen, mehr Einsicht in die eigenen Wahrnehmungsmuster zu gewinnen, sich also selbst beobachten zu können, wie man oft unbewusst von diesen Mustern geleitet und eben oft auch fehlgeleitet wird. Die Befähigung zur eigenen Reflexion der Reaktionsweisen auf Risikoinformationen haben wir als Risikomündigkeit beschrieben. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Risiken für sich selbst und für die Gesellschaft als Ganzes im Wissen um die möglichen Folgen und die eigenen Wahrnehmungsmuster sachgerecht und nach Maßgabe der eigenen Werte und Präferenzen einordnen zu können.

Politik, Wissenschaft und Medien haben in diesem Kontext die Aufgabe, alles dazu beizutragen, damit die Menschen diese Risikomündigkeit auch entwickeln können. Dazu gehören Informationen über den Stand des Wissens zu dem jeweiligen Risiko, Kommunikation über die Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster der Menschen und das Aufzeigen von Steuerungsmöglichkeiten, die der Einzelne oder die Gemeinschaft zum Umgang mit diesen Risiken nutzen kann. Je mehr wir in Risikomündigkeit investieren, desto größer ist die Chance, dass wir aus der Falle der Risikowahrnehmungsgesellschaft ausbrechen können.

Ortwin Renn

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