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Gastkommentar: Stuttgart 21: Mehrheit? Welche Mehrheit?

Ministerpräsident Stefan Mappus gefällt sich im Lichte eines Regierungschefs, der den Rechtsstaat verteidigt. Doch die Berufung auf die repräsentative Demokratie hat Grenzen. Ein Gastkommentar.

Die Situation in der Landeshauptstadt von Baden-Württemberg ist seit letzter Woche offenbar vollends verfahren. Der unverhältnismäßig harte Polizeieinsatz hat zu einer erheblichen Zuspitzung und zu einer nochmaligen Ausweitung des Protests gegen das Projekt „Stuttgart 21“ geführt. Wenn einem der Sinn nach Wortspielen stünde, dann könnte man von einem Zug sprechen, der in einem Sackbahnhof feststeckt.

Wer die Aufnahmen von der Massendemonstration gesehen hat, die sich in den Abendstunden des 1. Oktober wie ein Lindwurm durch die Stuttgarter Innenstadt gewälzt hat, der fühlte sich gar an die großen Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig erinnert. Sie läuteten das Ende der DDR ein. Worin die politischen Folgen für Stuttgart und Baden-Württemberg liegen, das muss sich noch herausstellen.

Bei allem Für und Wider: Entscheidend ist die Frage nach der Legitimität – der Politiker ebenso wie der Protestierenden. Die Landesregierung beruft sich auf Recht und Gesetz, auf Planungen, Vertragsabschlüsse und ein parlamentarisch einwandfreies Verfahren. Die Demonstranten hingegen berufen sich auf die Interessen der Bevölkerung, deren Skepsis, Zweifel und Kritik nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Beide Seiten können plausibel anmutende Begründungen vorbringen, vollends überzeugen kann allerdings keine.

Ministerpräsident Stefan Mappus gefällt sich im Lichte eines Regierungschefs, der den Rechtsstaat verteidigt. Was einmal beschlossen und vereinbart worden sei, so wird er nicht müde zu beteuern, dafür müssten die Projektpartner – insbesondere die Bahn – auch die entsprechende Sicherheit haben. Deshalb dürfe man keinerlei Zweifel am Festhalten an „Stuttgart 21“ aufkommen lassen. Selbst dann nicht – so könnte man inzwischen meinen –, wenn ein Großteil der Bevölkerung dagegen Sturm läuft. Nach dieser Logik unternimmt Mappus alles, um Fakten durch Zerstörung zu setzen – durch Abriss und Abholzung. Er scheint ganz nach dem Motto zu agieren, je mehr erst einmal abgerissen worden ist, desto weniger kann am Status quo festgehalten werden. Es ist so, als wolle er den Demonstranten die Grundlage ihres Protests durch die Bagger entziehen wollen. Wo kein Bahnhof mehr steht, da macht es auch keinen Sinn mehr, für dessen Erhaltung einzutreten.

Der CDU-Politiker sitzt mit dem von ihm deklarierten Selbstverständnis jedoch einem Trugschluss auf. Denn die Berufung auf die repräsentative Demokratie hat ihre Grenzen. Die Erringung einer parlamentarischen Mehrheit ist keineswegs als ein Freibrief dafür misszuverstehen, in der darauffolgenden Legislaturperiode tun und lassen zu können, was man – die Regierung – will. Die parlamentarische Demokratie ist schließlich keine statische Angelegenheit. Die Voraussetzungen, unter denen verkehrspolitische oder andere Großprojekte entschieden worden sind, können sich maßgeblich verändern. Eine Regierung muss in der Lage sein, sich einer gravierend veränderten Konstellation zu stellen.

Die letzte im August durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass in der Landeshauptstadt 63 Prozent gegen und nur noch 26 Prozent für das Bauvorhaben sind. (In der Region sind 48 Prozent dagegen und 30 Prozent dafür.) Das heißt nichts anderes, als dass die CDU/FDP-Koalition bei diesem Vorhaben, das als „Jahrhundertprojekt“ propagiert wird, nur eine Minderheit repräsentiert.

Die baden-württembergische Landesregierung, die sich unter dem Schutzmantel parlamentarischer Mehrheiten meint, auf die Macht des Faktischen verlassen zu können, sollte sich einmal vor Augen führen, dass es schon einmal ein Großprojekt gegeben hat, das nach mehrjähriger Bautätigkeit eingestellt worden ist. Es handelt sich dabei um die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf. Kein anderer als der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß hatte im jahrelangen Streit um die Atomtechnologie ein Zeichen setzen wollen. Doch es kam ab 1985 zu Dutzenden von Großdemonstrationen. Damals war die Rede nicht vom „Aufstand der Bürger“, sondern von dem in der Provinz. Kaum dass Strauß im Oktober 1988 gestorben war, sprangen mit Siemens und der VEBA die beiden Hauptbetreiber ab. Das war das Aus für die WAA. Nicht weniger als zehn Milliarden DM waren damals im wahrsten Sinne des Wortes in den Sand gesetzt worden. Das sollte zu denken gegeben.

Selbst ein konservativer Politiker wie der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht, der Vater von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, hatte angesichts der sich ausbreitenden Proteste gegen ein Zwischenlager Gorleben schon Jahre zuvor geunkt, man könne ein solches Projekt nicht gegen die Bevölkerung durchsetzen. Ob zu dieser Einsicht auch Ministerpräsident Mappus in der Lage sein wird, darf bezweifelt werden. Er hat noch ein paar Monate Zeit, um darüber nachzudenken. Im Frühjahr jedoch dürfte sie abgelaufen sein.

Umgekehrt gefällt sich die Protestbewegung allerdings zu sehr in der Gestalt derjenigen, die die Vox populi zum Ausdruck bringen. Sie will den Abrissarbeiten Einhalt gebieten, den Bedenken gegen die Realisierung des Großprojekts zum Erfolg verhelfen und eine Kehrtwende herbeiführen. Das ist ihr gutes Recht. Bislang aber ist nicht sichtbar, wie das noch gelingen könnte. Wäre nicht etwa – so ist zu fragen – eine eingeschränkte, wesentlich kostengünstigere und sinnvollere Variante denkbar? Denn kaum jemand dürfte inzwischen noch an die Wiederherstellung des alten Hauptbahnhofes glauben.

Seit einiger Zeit ist durchaus erkennbar, wo eine Kompromisslinie verlaufen könnte. Denn es gibt ja eine Alternative zu dem im Bau befindlichen Großprojekt „Stuttgart 21“. Es nennt sich „Kopfbahnhof 21“. Darin ist vorgesehen, den Stuttgarter Hauptbahnhof als Kopfbahnhof zu erhalten, zu modernisieren und weiter auszubauen. Diese Alternative müsste offensiver herausgestellt werden, um den Eindruck zu verhindern, als würden sich unter der Fahne des Protests lediglich die Modernisierungsblockierer versammeln.

Der Autor arbeitet als Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung.

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