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Französische Streitkräfte während einer ihrer ersten Nato-Operationen in Libyen.

© AFP

Gastkommentar zum Libyen-Einsatz: ...Und täglich tötet die Nato

Elf Wochen Bombardement, rund 9000 Lufteinsätze und nun die Entsendung von Kampfhubschraubern. Der Friedensforscher Reinhard Mutz fragt sich, welche Ziele die Nato in Libyen verfolgt.

In Libyen, dem Land mit den reichsten Ölvorkommen Afrikas, herrscht je nach Blickwinkel ein exaltierter Autokrat oder ein skrupelloser Diktator. Es ist derselbe, den die Regierungen Europas mit protokollarischen Ehren hofierten, den sie in ihren Hauptstädten sein Beduinenzelt aufschlagen ließen, mit dem sie Handel trieben und Geschäfte schlossen, der sie vor Flüchtlingsströmen aus dem Inneren des Kontinents abschottete und dessen modernste Waffen europäischer Produktion entstammen. Anders als in Tunesien und Ägypten hat die Aufstandsbewegung den alten Potentaten bislang nicht aus dem Amt zu drängen vermocht. Gaddafis Anhänger kontrollieren den bedeutenderen, die Oppositionellen den übrigen Teil des Landes. Um Größe und Grenzen der jeweiligen Besitzstände wird gekämpft.

Nach UN-Kriterien zählt Gaddafis Libyen zu den hochentwickelten Ländern der Erde. Der Human Development Index, eine Art Messlatte für Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung, erfasst die Lebenserwartung, den Bildungsgrad und das Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Einwohners. Auf der globalen Länderliste belegt Libyen Platz 53. Damit überragt es alle anderen afrikanischen Staaten.

Die Platzierung verrät nichts über den Charakter des politischen Systems, nichts über Rechtsstaatlichkeit, nichts über persönliche Freiheiten der Bürger. Aber sie gibt einen Hinweis darauf, dass es sich nicht um ein Stück Afrika handelt, dessen Reichtum notorisch in den Taschen der Mächtigen versickert. Was dieses Land, das sich auch im Verzicht auf die Entwicklung und den Erwerb eigener Massenvernichtungswaffen als kooperativ erwiesen hat, in den politischen Kanzleien wie in den öffentlichen Meinungen des Westens binnen Tagen zum Schurkenstaat degradierte, bleibt ein noch aufzudeckendes Geheimnis.

Seit Ende April verändert die Allianz die Zielpläne ihrer Luftoperationen

Zum militärischen Eingreifen von außen, das am 19. März begann, gaben Nachrichten den Anstoß, Gaddafis Armee gehe mit Luftangriffen gegen friedliche Demonstranten vor. Was daran stimmt, ist bis heute unklar. Das UN-Generalsekretariat in New York, das Pentagon in Washington, sogar die westlichen Botschaften vor Ort in Tripolis sahen sich außerstande, die Schreckensmeldungen zu bestätigen.

Gleichwohl wählte der UN-Sicherheitsrat auf amerikanisches, britisches und französisches Drängen das schärfste Sanktionsmittel, über das er verfügt – den Einsatz von Waffengewalt. Die einschlägige Libyen-Resolution 1973 vom 17. März erlaubt, „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um von Angriffen bedrohte Zivilpersonen und von der Zivilbevölkerung bewohnte Gebiete zu schützen“. In seiner Unbestimmtheit und Offenheit für denkbar weite Auslegungen gleicht der Text einer Blankovollmacht. Dennoch deckt er nicht jedes beliebige Vorgehen.

Der libysche Diktator Gaddafi im Visier der Alliierten.
Der libysche Diktator Gaddafi im Visier der Alliierten.

© Illustration: Reiner Schwalme

Gemeint sind vielmehr die Durchsetzung des Waffenembargos gegenüber beiden Kontrahenten, das bereits die erste Libyen-Resolution vom 26. Februar verhängt hatte, und die Überwachung des Flugverbots im libyschen Luftraum zum Schutz der Bevölkerung. Für weitergehende Absichten, zum Beispiel einen politischen Regimewechsel zu erzwingen, bieten die Beschlüsse des Sicherheitsrats jedoch keine Handhabe.

Dabei haben die maßgeblichen Fürsprecher der militärischen Intervention von Anfang an keinerlei Zweifel daran gelassen, dass der Schutz unschuldiger Zivilisten nicht den einzigen Zweck westlicher Kampfjets darstellen würde. Zugleich, wenn nicht vor allem, leisten sie Umsturzhilfe für die genehmere der beiden Konfliktparteien im libyschen Stammes- und Bürgerkrieg.

Am 15. April verflogen die letzten Zweifel. In einem gemeinsamen Zeitungsbeitrag, der zeitgleich in der britischen „Times“, dem französische „Le Figaro“ und der „Washington Post“ erschien, ließ die alliierte Führungstroika wissen, wie sie sich den Kriegsausgang vorstellt. Obama, Cameron und Sarkozy verkündeten: „Laut der UN-Resolution 1973 ist es unsere Pflicht und unsere Aufgabe, die Zivilisten zu beschützen. Das ist es, was wir tun.“ Solange Gaddafi an der Macht sei, müssten die Nato und ihre Koalitionspartner die Operationen weiterführen. Würde Libyen seinem Schicksal überlassen, bestehe das Risiko, dass das Land zu einem „gescheiterten Staat“ werde, womit sich die Welt eines „skrupellosen Verrats“ schuldig mache.

Mit anderen Worten: Bis zum Amtsverzicht (oder der physischen Liquidierung?) des Machthabers in Tripolis wird weitergebombt, inzwischen auch mit Kampfhubschraubern. Damit brüskierte die Troika nicht zuletzt ihre eigenen Bündnispartner, die erst am Vortag auf dem Berliner Nato-Ratstreffen als Voraussetzung, die militärischen Operationen zu beenden, ausschließlich solche Bedingungen genannt hatten, die mit dem UN-Mandat im Einklang stehen.

Seit Ende April verändert die Allianz jedoch die Zielpläne ihrer Luftoperationen. Neben militärischen Einrichtungen geraten zunehmend zivile Liegenschaften ins Fadenkreuz, darunter Gebäude, die der Gaddafi-Familie als Arbeits- und Wohnräume dienen. Die Einschläge rücken näher an das Zentrum der Macht. Regierungsangaben aus Tripolis zufolge kamen bereits am 1. Mai ein Sohn Gaddafis und drei seiner Enkel bei einem Luftangriff ums Leben. Die Nato hat die Meldung weder dementiert noch den Vorgang bedauert, so dass zu fragen ist: Hält sie das Töten von Kindern für ein Mittel, das ihrem Auftrag entspricht? Oder lautet der Auftrag ohnehin schon ganz anders?

Der Machtkampf wird also ausgeschossen. Doch ein durchschlagender Erfolg, gar das Ende des Unternehmens, ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Zunehmend lauter rufen die Militärs nach mehr Flugzeugen mit Präzisionswaffen gegen Bodenziele. Alle vorhandenen militärischen Mittel müssten jetzt zur Verfügung gestellt werden. Offenbar stehen die Zeichen auf Eskalation. Zu den Opfern, die schon Gaddafis Aufbäumen gegen den doppelten Feind innerhalb und außerhalb seiner Landesgrenzen kostet, kommen jene, die als „Kollateralschäden“ der Nato-Luftattacken zu beklagen sind.

Ein neuer Name war erfunden worden – humanitäre Intervention

Nach der moralischen Rechtfertigung und der politischen Verantwortbarkeit der gewaltsamen Intervention gefragt, verweisen die Befürworter mit Vorliebe auf den zeitgeschichtlichen Präzedenzfall des Kosovokriegs. Da lohnt es, genauer hinzusehen. Damals, 1999, war es die amerikanische Außenministerin Madeleine Albright, die mit der Prognose irrte, ein paar energische Luftschläge würden genügen, den Kontrahenten in die Knie zu zwingen. Die Nato reagierte, indem sie die Schraube anzog, die Angriffsfrequenz erhöhte, die Ziellisten erweiterte. Trotzdem brauchte sie, ehe ihr Kriegszweck erreicht war, 78 Tage Dauerfeuer in 37 000 Lufteinsätzen mit Bomben und Raketen auf Straßen, Eisenbahnlinien, Brücken, Fabriken, Raffinerien, Rundfunksender – sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag.

Dass schließlich in der elften Kriegswoche der serbische Widersacher die weiße Fahne hisste, verlieh ihm noch nachträglich die Gloriole eines verantwortungsbewussten Staatsmanns. Denn „sonst hätte die Nato weitergebombt“, so der damalige Oberbefehlshaber General Wesley Clark, „seine Infrastruktur pulverisiert. Wir hätten die Nahrungsmittelindustrie zerstört, die Kraftwerke. Wir hätten alles getan, was nötig gewesen wäre.“ So sah es aus, das Kriegsbild, für das eigens ein neuer Name erfunden wurde: die humanitäre Intervention. Kein gutes Omen für die Menschen in Libyen.

In den USA hatten die militärischen Experten im Sicherheitskabinett von Präsident Barack Obama – Robert Gates, der demnächst ausscheidende Verteidigungsminister, Michael Mullen, der ranghöchste Soldat, Tom Donilon und Denis McDonough, die Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrats – einhellig vor der Verstrickung in einen weiteren bewaffneten Konflikt mit ungewissem Ausgang gewarnt.

Doch eine Phalanx einflussreicher Frauen in hohen Regierungsämtern setzte sich letztlich durch: Außenministerin Hillary Clinton, UN-Botschafterin Susan Rice und die Sicherheitsberaterin Samantha Power. Ihre vorwiegend humanitäre und menschenrechtliche Argumentation gab am Ende den Ausschlag für den abrupten Schwenk der amerikanischen Libyenpolitik Mitte März.

Obgleich selbst am Schicksal des attackierten Landes nur mäßig interessiert, hält Washington an seiner ungeschmälerten Führungsrolle fest. Dem widerspricht auch nicht notwendigerweise die Entscheidung, die militärischen Kampfeinsätze weitgehend den Verbündeten zu überlassen und sich auf unterstützende Maßnahmen zu beschränken. Im Gegenteil: Zum Markenzeichen amerikanischer Auslandsaktivitäten zählt seit geraumer Zeit der verdeckte Kampf mit Spezialkräften.

Ob nun ein militärischer Gegner geschwächt oder „befreundete“ Gruppen gestärkt werden sollen, stellt lediglich die Kehrseite derselben Idee dar. Ein Gebiet, das sich wie der Ostteil Libyens unter Kontrolle des ausersehenen regionalen Kooperationspartners befindet, bietet dafür sogar besonders günstige Voraussetzungen.

Zwei politische Initiativen für eine Verständigung liegen vor

Allerdings lässt der einschlägige Libyen-Beschluss des UN-Sicherheitsrats auch für diese Form der Bündnishilfe kein Schlupfloch. Die Resolution verbietet nicht nur die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung, sondern auch „die Bereitstellung technischer Hilfe, Ausbildung, finanzieller und anderer Hilfe im Zusammenhang mit militärischen Aktivitäten“ – und zwar auf dem gesamten Territorium des Staates, also auch Lieferungen und Dienstleistungen für die Aufständischen in Bengasi.

Wie aber sonst kann die libysche Zivilbevölkerung ihrer Zwangslage entgehen, wie in den Genuss des bislang nur papiernen Schutzversprechens gelangen? Die Antwort ist so trivial wie plausibel: Die Waffen, und zwar alle, müssen zum Schweigen gebracht werden, besser heute als morgen, und nach Kräften flankiert durch die zupackende Unterstützung der internationalen Gemeinschaft.

Eine politische Lösung, wie sie der Nato und der EU erklärtermaßen am Herzen liegt, verlangt nach politischen Impulsen. Wer zum Beispiel hat denn bis heute denjenigen Libyern eine Stimme verliehen, die sich allen propagandistischen Appellen zum Trotz, im Bürgerkrieg die Seiten zu wechseln, dem selbsternannten Übergangsrat und dessen selbsternannten Vorsitzenden noch immer nicht anzuschließen gedenken?

Zwei politische Initiativen für eine Verständigungslösung liegen vor, unterbreitet zum einen vom Nato-Mitglied Türkei, zum anderen von einer hochrangigen Abordnung der Afrikanischen Union. Sie gleichen sich in der vorgeschlagenen Schrittfolge: ein sofortiger Waffenstillstand, Beendigung der Belagerung eingeschlossener Städte, ungehinderte Bereitstellung humanitärer Hilfe und die Einleitung eines Verhandlungsprozesses zwischen den libyschen Konfliktseiten. Zusätzlich fordert der afrikanische Plan von der Nato, die Luftangriffe unverzüglich einzustellen.

Hinter diesen Vermittlungsversuch haben sich die sogenannten BRICS-Länder gestellt: Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika. Das ist zwar optisch eine imposante Gruppierung, doch politisch offenbar zu leichtgewichtig, solange die Nato-Interventionsmächte keine Bereitschaft zeigen, ein anderes als ihr schlichtes Rezept, den Konflikt mit der Brechstange zu entscheiden, auch nur zu diskutieren.

Zum ersten Mal beruft sich eine Gewaltermächtigung des UN-Sicherheitsrats ausdrücklich auf das neue Prinzip der Schutzverantwortung (responsibility to protect). Die Idee dahinter ist: Versagen die nationalen Behörden beim Schutz der Bevölkerung vor Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord, so tritt subsidiär die internationale Gemeinschaft auf den Plan und ergreift geeignete Maßnahmen.

Es liegt auf der Hand, dass eine solch hehre Zielsetzung nur dann erreicht werden kann, wenn eigennützige Motive und durchsichtige Machtinteressen sie nicht überlagern. Deshalb warnen Skeptiker vor der immanenten Gefahr der als Völkerrechtsnorm erst im Entstehen begriffenen Schutzverantwortung, dem Missbrauch Tür und Tor zu öffnen. Der Libyenkrieg hat sie nicht widerlegt.

Der Autor war bis 2006 Wissenschaftlicher Direktor am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Der Artikel stammt aus der aktuellen Juni-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ (www.blaetter.de).

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