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Islam, Judentum und Christentum - Plädoyer für eine friedliche Koexistenz.

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Gegen die Zerrbilder des Glaubens: Mehr als eine Mahnwache

Religiöse Bildung verringert die Gefahr von Terrorismus. Wir brauchen nicht weniger öffentliche Debatten über Religion, sondern mehr. Ein Gastbeitrag.

Nach dem Terrorakt in Paris standen die Vertreter dreier Religionen nebeneinander auf der Bühne am Brandenburger Tor: Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime, Abraham Lehrer vom Zentralrat der Juden, der katholische Weihbischof Matthias Heinrich und ich. Wir haben gezeigt: Alle drei monotheistischen Religionen distanzieren sich von jeglicher Funktionalisierung ihres Glaubens für Gewalt: „Nicht in unserem Namen“.

Wann wird eine Religion zum Segen? Wann zum Fluch? In Thora, Bibel und Koran finden sich gleichermaßen martialische Aufrufe, den eigenen Glauben mit Gewalt durchzusetzen. Der verstorbene jüdische Theologe Pinchas Lapide hat es einmal so formuliert: „Man kann die Bibel ernst nehmen – oder wörtlich.“ Beides zusammen verträgt sich schlecht. Nur mit einem solchen aufgeklärten Verständnis einer Heiligen Schrift kann die lebensbejahende Kraft der Religion gefördert und der Dialog der Religionen ernsthaft gepflegt werden.

Das Christentum musste einen langen Weg durch die Irrungen und Wirrungen der Geschichte gehen, bis es diesen Reifegrad erreicht hatte. Dazu waren die Impulse der Reformation notwendig, mit ihrer Berufung auf die Gewissensfreiheit und mit ihrer Erkenntnis, dass die Bibel von ihrer Mitte her zu lesen ist: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst!“ Der Glaube musste das Reinigungsbad der Aufklärung über sich ergehen lassen. Keineswegs immer freiwillig. Aber schließlich haben die Kirchen sich in unterschiedlicher Intensität mit den Einsichten der selbstkritischen Vernunft auseinandergesetzt. Seither reicht es nicht mehr, die Wahrheit einer Heiligen Schrift schlicht zu behaupten. Eine glaubwürdige Religion braucht aktuell verantwortete Bekenntnisse. Sie muss öffentlich transparent machen, wie sie ihre Heiligen Schriften reflektiert versteht und wofür sie als Glaubensgemeinschaft einsteht.

Vielen Menschen erscheint ein Leben ohne Religion als ganz selbstverständlich

Die Mahnwache war ein wichtiges Zeichen. Aber mehr auch nicht. Konsequenzen müssen folgen. „Wir sind uns dessen bewusst, dass es in allen Religionen ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt gibt. Das gilt auch für das Christentum. Jede Religion muss sich von innen heraus um ihre eigene Zivilisierung bemühen. Nur so kann sie Gott ehren und Menschen helfen und sie trösten. Den Leitenden und Lehrenden in den religiösen Gemeinschaften fällt dabei eine besondere Verantwortung zu.“ So die aktuelle Erklärung der Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Wir brauchen nicht weniger öffentliche Debatten über Religion, sondern mehr; nicht Privatisierung, sondern öffentliche Kultivierung gelebter Religion; nicht wegschauen, wenn Religion zum Fanatismus wird, sondern kenntnisreich widersprechen; nicht weniger religiöse Bildung, sondern mehr.

Der Bertelsmann Religionsmonitor 2013 hat in seiner Untersuchung zur Religiosität in Deutschland festgestellt: Fehlende religiöse Erfahrungen und mangelndes religiöses Wissen führen dazu, dass vielen Menschen ein Leben ohne Religion als ganz selbstverständlich erscheint. Das entspricht aber nicht der Realität. Die Welt ist anders. Religiosität nimmt keineswegs ab. Im Gegenteil. Sie wird zunehmend wirkungsstark. Weltweit. Wenn aber immer weniger Menschen Religion verstehen und gleichzeitig immer mehr Menschen für Religionen empfänglich sind, dann ist Gefahr im Verzug. Wer die Religionen nur noch von ihren Zerrbildern her versteht, ist besonders gefährdet, sich gegen die jeweils Anderen aufwiegeln zu lassen. Je weniger religiöse Bildung, umso mehr Gefahrenpotenzial für Terrorismus.

Die Terroranschläge von Paris müssen uns wachrütteln. Wir brauchen eine neue Bildungsoffensive in Sachen Religion und interreligiöser Dialogkompetenz. Fakultäten für jüdische, christliche und muslimische Theologie müssen gestärkt werden. Konfessioneller Religionsunterricht an der Schule, der Dialogfähigkeit vermittelt, muss ausgebaut werden. Religion als Bildungsgut für alle, nicht nur für die Gläubigen, braucht deutlich mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung.

- Der Autor ist Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz.

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