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Für junge Leute in Europa bedeutet die EU Reisefreiheit und Krise zur selben Zeit.

© imago

Generation Europa: Pfingstwunder

Wie ein Kontinent eine Heimat wurde und nationale Rivalität bloß noch eine Sache des Fußballplatzes: Über eine Generation, die die EU noch zu schätzen weiß.

Fast vergessen bei all den Dramen der vergangenen Tage, bei den Todesschüssen von Kiew, bei dem unvorstellbaren Mut des Widerstands auf der Straße, dem unbeirrbaren Willen zur Selbstbehauptung – fast vergessen, womit all das in der Ukraine begonnen hat. Mit Europa. Mit der Sehnsucht so vieler Menschen danach, diesem Europa nahe zu sein.

Gemeint war natürlich nicht das Europa, das die Krümmungswinkel von Bananen vermisst. Nicht gemeint war das Europa, das seine Staaten mit Sparbefehlen stranguliert. Nicht gemeint war das Europa, das seine Jugendlichen ohne Arbeit auf der Straße sitzen lässt. Gemeint war das Europa der Freiheit. Europa als Chiffre dieser Freiheit. Der Friedlichkeit auch. Vielleicht sogar der Brüderlichkeit und des besseren Lebens. Aber ganz besonders der Freiheit.

Es tut gut, uns dessen zu vergegenwärtigen. Wir, die wir im Dauerstau der Euro- und Europa-Skepsis stecken. Die wir zusehen, wie Europa-feindliche Parteien Zulauf bekommen. Die wir ratlos Europa-Müdigkeit registrieren. Die wir beim Wort Europa zuallererst an dessen Kosten denken. Und vergessen haben, dass auch für uns Europa einmal eine Chiffre war. Für Freiheit. Und gegen Krieg.

Man muss vielleicht gar nicht bis Kiew reisen, um das erneut zu erfahren. Kürzlich, es war vor zwei Wochen, gab es ein sehr privates Europa-Erlebnis dieser Art in Berlin. Eine Nachbarin hatte eingeladen, ein runder Geburtstag, etwa 40 Gäste, ein Restaurant war gemietet, geschlossene Gesellschaft. Man aß dort, trank und lachte viel.

Aber das Essen, Trinken und Lachen war nicht das Wichtigste. Viel wichtiger war das Sprechen. Es war nämlich ein babylonisches Sprechen. Denn die überwiegende Zahl der Eingeladenen kam nicht aus Deutschland. Und trotzdem sprachen alle ohne Unterlass miteinander, wollten gar nicht aufhören zu reden. Sie sprachen Griechisch und Spanisch, Italienisch und Deutsch und Französisch. Und es war egal, wer welche Sprache sprach und welche nicht.

Manche waren virtuos in ihrer Sprachenbeherrschung, bi- und tri- und quattrolingual. Andere wussten nur vereinzelte Wörter im fremden Idiom. Auch das war egal. Die Sprachen mischten sich, die Wörter purzelten durcheinander, kuriose Sätze entstanden, wild zusammenmontiert aus französischen, spanischen, deutschen Fetzen.

Alle halfen sich gegenseitig, zu begreifen, und verstanden einander schließlich prächtig. Ein italienischer Brocken wurde begrüßt wie eine Himmelserscheinung und ein griechischer wie die Rückkehr des Odysseus. Ein wahres Pfingstwunder. Es war vollkommen gleichgültig, aus welchem europäischen Land wer kam. Europa? Und wie.

Am späteren Abend wurden die Tische zur Seite geschoben, dann lag sich die Gruppe der Gäste stehenden Fußes in den Armen, tanzte Sirtaki, und noch später drehten französische Herren luxemburgische Damen im Kreis, dass es zum Schwindeligwerden war, manche tanzten Walzer, obwohl Österreicher nicht anwesend waren. Ach, Europa.

Aber es war an diesem Abend ja nicht nur die wundersame Sprachenvermischung, die Europa zu so einer unvermuteten Wirklichkeit werden ließ. Es war auch der Gleichklang der Erfahrungen. Die meisten hier waren nicht lange nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, hatten erlebt, wie aus den Trümmern ein Traum wuchs und aus dem Traum Stück für Stück eine Realität. Wie ein Kontinent eine Heimat wurde und nationale Rivalität bloß noch eine Sache des Fußballplatzes.

Vaterland, Muttersprache – die Wörter begannen zu verblassen und schienen mehr und mehr zu Begriffen aus einer anderen Zeit zu werden. Und der Patriotismus zu einem europäischen Patriotismus. Generation Europa. Schwer begreiflich vermutlich dieses Entzücken für jene, die in dieses vereinte und sich vereinende Europa hineingeboren sind, es als Selbstverständlichkeit erleben, manchmal eher als Last und nicht als Begierde. Aber wahrscheinlich ist es schöner, die Großeltern erzählen von diesem Werden als vom Krieg.

P.S. Das Restaurant, in dem diese Begegnung mit dem alten Europa stattfand, heißt übrigens „Paris-Moskau“. Was für ein Name. Man könnte ihn als die Hoffnung auf eine fernere Zukunft begreifen. Eine europäische.

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