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Gesellschaft: In Pauls Welt

Was ist konservativ: Ist es eine Haltung, ein Lebensstil, eine Ideologie, eine Sammlung universaler Werte – oder nichts davon?

Von Robert Birnbaum

„Geh’n Se mit der Konjunktur“ (Hazy Osterwald Sextett, 1960)

Das Rumoren überkommt die CDU in Wellen, immer mal wieder, im Moment mal wieder besonders stark. Ein paar Ehemalige haben alterszornige Aufsätze verfasst. Ein paar, die etwas werden wollen, haben ein Pamphlet beigesteuert. Bei vielen Parteiveranstaltungen steht einer auf und mahnt an. Die CDU, rumort es, vergesse das Konservative, verdränge es gar, beraube sich damit einer ihrer Wurzeln, gefährde ihre Wahlchancen. Angeblich handelt es sich um Beiträge zur Programmdebatte. Aber das darf man nicht so wörtlich nehmen. Die Frage nach dem Konservativen treibt die Christdemokratie schon länger um. Sie wird es auch noch lange tun. Zeit also für sachdienliche Hinweise.

Erstens: eine kleine naturhistorische Erinnerung. Das lateinische Wort „conservare“ bedeutet erhalten, bewahren, retten, schonen. Die Konservendose wurde daraus abgeleitet, ebenso aber das Konservative. Eigentlich ist es so alt wie die Welt, die sich ins verlorene Paradies zurücksehnt. Als politischer Kampfbegriff verdankt es seine Existenz aber erst der Französischen Revolution.

Folgerichtig vertrat auch Paul die Auffassung, dass mit dem Sturm auf die Bastille und ihren Folgen – Aufklärung, Rockmusik, Beischlaf vor der Ehe – der Untergang des Abendlandes angefangen habe. Paul, Jahrgang 1924, war zu seiner Zeit das Muster eines Konservativen. Er ging jeden Samstagabend in die Kirche. In der Wohnstube hingen Dürers Betende Hände. Pauls Frau erzog die Kinder und pflegte die Alten. Paul las unter zustimmendem Nicken die Leitartikel der großen Zeitung aus Frankfurt laut vor und wählte CDU, weil CSU regional nicht im Angebot war. Paul hatte nichts gegen Fortschritt – die Knickerbocker tauschte er sofort gegen eine Wanderhose aus Kunststoff ein, als er feststellte, dass die Nylontextilie nach Regen rascher trocknete. Aber er unterschied scharf zwischen solchem echten Fortschritt und verdammenswertem falschen Fortschritt.

Das hatte zur Folge, dass Paul stets ein wenig melancholisch gestimmt war. Denn selbst in einer westfälischen Kleinstadt zu Anfang der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts gehörte er zu einer aussterbenden Gattung, und er wusste das. Man kann sogar sagen: Es bereitete ihm eine gewisse grimmige Genugtuung. Sie entspringt dem ersten Naturgesetz des Konservativismus: Konservativ zu sein, ist nur möglich in einer Welt, die es überwiegend nicht ist.

Zweitens: vergeblicher Versuch einer Typologie. Endlose Debatten werden darüber geführt, was „konservativ“ eigentlich sei: eine Haltung? Ein Lebensstil? Ein Modell zur Welterklärung? Eine Sammlung universaler Werte und Glaubenssätze? Das Lager selbst unterscheidet feinsinnig in Wertkonservative (die nichts gegen die Nylonwanderhose haben, sofern sie nur mit der richtigen Gesinnung getragen wird) und Strukturkonservative (die an der Knickerbocker kleben, weil ihnen genau das als Ausdruck der Gesinnung gilt).

Leider helfen all diese Kategorien nur in der Akademie weiter. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Man merkt das immer dann, wenn jemand versucht, „Konservativismus heute“ zu definieren. Die von der Theorie inspirierten Versuche verlieren sich allesamt rasch im Labyrinth der Adjektive: „Bürgerlich-konservative Politik ist standhaft, aber nicht beharrend, offen, aber achtsam, vorurteilsfrei, aber wertebezogen“, zählt die jüngste Blaupause für „modernen Konservativismus“ aus dem Laptop von vier Jung-Unionisten daher. Der Satz heißt auf gut Deutsch: Wir sind die Guten, irgendwie. Adjektive sind ein sicheres Zeichen dafür, dass einer sein Thema nicht auf den Begriff kriegt. Immerhin darf die politische Wissenschaft dem Quartett dankbar sein, weil es ihr eine neue Untergattung beschert hat: Den Konjunkturkonservativen. Das ist ein Politiker von Beruf, der überall gelesen hat, dass die Union ihr konservatives Gesicht verliere, und sich schon mal auf die Planstelle bewirbt.

Drittens: Konservativ zu sein, ist schwer. Paul hatte es damals einfach. Er hatte einen Gegner. Der Gegner hieß „Gammler“, „Rocker“, „Hippie“ und so weiter, heute im Rückblick unscharf zusammengefasst als „die 68er“. Man erkannte sie an langen Haaren und Bärten, Beischlaf ohne Ehe, Rockmusik, Karl Marx im Regal, Verweigerung des Wehrdienstes und anderen untrüglichen Zeichen. Paul brauchte nur seine Knickerbocker hervorzuholen, um als konservative Ein- Mann-Demo dagegenzuhalten.

Heute sagen uns die Neokons, dass sie immer noch gegen „die 68er“ kämpfen. Das klingt ein Vierteljahrhundert später verdächtig nach einem Verlegenheitsgegner. Tatsächlich müssen sie tief in die Klamottenkiste greifen, um das Schreckgespenst mit alten Kleidern auszustaffieren. Und sie müssen dabei verflixt aufpassen, dass sie dem Pappkameraden nicht versehentlich ein legeres Hemd von einer Marke überstülpen, die sie längst selber ganz bequem finden.

Es ist nämlich so, dass der moderne bürgerliche Konservative dem Gegner von Papa Paul auffallend ähnelt. Er schwört zwar auf Ehe und Familie; aber auch er lässt sich scheiden. Er zahlt zwar Kirchensteuer. Aber so viele 68er kann es gar nicht geben, dass die Kirchen deshalb alle leer sind. Und so weiter. Konservativ zu sein, ist von einer verbindlichen Lebensform mit unangenehmen Zwängen zur bloßen Haltung geworden, manchmal nur noch zum Jargon. Es gibt sogar Event-Konservativismus. Man jubelt dem Papst zu. Die Kirchen sind trotzdem leer.

Franz Josef Strauß hat all das übrigens kommen sehen und deshalb seinen Nachfahren einen nützlichen Satz hinterlassen: „Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts zu stehen.“ Wer das zum ersten Mal hört, vermutet eine tiefe Weisheit dahinter. Erst der Versuch, den Satz zum Beispiel einem Engländer zu erläutern, fördert seinen wahren Gehalt zutage. Alle wörtlichen Übersetzungen ergeben nämlich offenkundigen Unsinn. Nur die sinngemäße Übertragung funktioniert: „Anything goes“, alles ist möglich.

Womit wir beim Kern der Sache wären, einer der großen Ironien der jüngeren deutschen Zeitgeschichte. Nicht nur „die 68er“ haben den einen oder anderen Sieg davongetragen – das Umgekehrte gilt noch mehr. Die Konservativen haben längst über die 68er gesiegt. Nicht in allen Belangen, natürlich nicht, aber in symbolisch entscheidenden. Die Revolutionäre sind treue Familientiere geworden, haben ihren Abscheu vor Eigentum vergessen, hören Rockmusik in Zimmerlautstärke, schicken ihre Kinder zum Flötenunterricht und wären auch sonst für Großvater Paul, wenn er das noch erlebt hätte, eine rechte Freude.

Dieser Verlust der Trennschärfe ist der Grund dafür, dass ein alter Aufrechter wie Jörg Schönbohm das „konservative Tafelsilber“ der CDU nie bewahren konnte. Das Besteck ist längst nicht mehr komplett, jeder benutzt Teile davon, überall liegt modernes Edelstahlessgerät dazwischen, und die paar wirklich alten Stücke sind derart schwarz angelaufen, dass sich keiner mehr die Hände damit schmutzig machen will, sie noch mal aufzupolieren.

Wie lautete noch gleich das erste Naturgesetz des Konservativismus? Konservativ zu sein, ist nur möglich in einer Welt, die es überwiegend nicht ist.

Einschub: Aber die linke Mehrheit? Das Ideal der Linkspartei ist die Vollendung der Republik Helmut Kohls, Stand Januar 1990: „Die Rende is sischer“, keine deutschen Soldaten dorthin, wo’s schießt, Arbeit für alle und im Osten blühende Landschaften. Der größte anzunehmende Konservative der Gegenwart heißt Oskar Lafontaine. Linke Mehrheit? Sehr komisch.

Viertens: Arme, arme CDU. Man könnte jetzt denken, ach so, die CDU hat gar kein Problem, die redet sich das nur ein. Das stimmt aber nicht. Die CDU hat sogar ein doppeltes Problem. Das eine teilt sie mit der SPD. Keiner der beiden Volksparteien gelingt es, ihre Alltagskonservativen verlässlich an sich zu binden. Alltagskonservative – das sind all die Menschen, die konservativ nicht aus Überzeugung sind, sondern aus Sorge. Muss das sein, dass ich für die Steuererklärung demnächst einen Computer brauche? Wieso ist ein Hauptschulabschluss nichts mehr wert? Der Alltagskonservative ist nicht prinzipiell gegen den Fortschritt. Er verspricht sich nur nicht allzu viel davon, und oft überfordert er ihn.

An dieser großen Gruppe Verunsicherter ist die Reform-SPD Gerhard Schröders gescheitert und die Reform-CDU Angela Merkels am Wahltag 2005 beinahe auch. Nur folgerichtig, dass beide Parteien jetzt darum wetteifern, die beruhigende Botschaft der „Teilhabe für alle“ zu verbreiten. Ob das funktioniert, ist offen. Entscheidend ist etwas anderes. Es gibt ein großes Potenzial an konservativer Sehnsucht – das Konservative nicht für sich mobilisieren können. Edmund Stoiber hat das als Kanzlerkandidat 2002 erfahren. Der Alltagskonservative führt keinen Kulturkampf. Er will, dass alles so bleibt, und weiß doch, dass es nicht so bleiben wird. Er will Hilfe in der Veränderung und ein bisschen Verständnis. Parolen sind ihm eher suspekt.

Aber es gibt eine zweite, kleinere Gruppe in der CDU, die lechzt nach Parolen. Das sind die Elitekonservativen, Erben der Urväter der Bewegung. Der politische Konservativismus wurde ja immer von ehemaligen Eliten gestellt, die zu Verlierern der Modernisierung geworden waren. Wo der Alltagskonservative mehr der schulterzuckenden Resignation zuneigt, bläst der Elitekonservative zum Kampf. In jeder CDU-Programmkonferenz schreitet also irgendein älterer Herr ans Mikrofon, fragt schnippisch, ob die CDU und diese Frau von der Leyen denn wirklich nicht mehr wollten, dass Mütter kleine Kinder zu Hause großzögen, und verlangt aber mindestens ein Betreuungsgeld! Man hört der Stimme an, dass es dem Herrn nicht um Euro und Cent geht. Er will von seiner Partei bescheinigt haben, dass sein eigener Lebensentwurf richtig war. Es geht ihm um Satisfaktion.

Die aber wird er nie bekommen, sondern höchstens Euro und Cent. Er will eigentlich zurück zur Eindeutigkeit der alten Tage. Doch jeder Versuch dazu zerbricht an der Realität. Es ist ja kein Zufall, wenn sich kein Politkonservativer laut zu fordern traut, dass die Frau ins Haus gehört, solange die Kinder klein sind. Wenn man ihn fragt, warum er schweigt, kriegt man zu hören, dass er doch nicht der linken Presse einen Vorwand liefern werde, ihn als Reaktionär niederzumachen! Eine schöne Begründung, nur leider nicht die ganze Wahrheit. Er schweigt, weil die eigene Tochter – studiert, Doktortitel – ihm einen Vogel zeigen würde.

Und darum wird es so recht nichts mit dem modernen bürgerlichen Konservativismus. Er nimmt die Aufgabe, die er bewältigen müsste, noch viel zu leicht. Es ist nicht einfach nur die CDU, die ihren Kompass verloren hat. Es ist die Wirklichkeit selbst, die sich der klaren Richtung verweigert.

Im Grunde war das zu Pauls Zeiten schon absehbar. Aber sein Weltbild ließ sich immer am großen Widerspruch stabilisieren, an „Freiheit statt Sozialismus“. Unter diesem Schirm bot die CDU von Rita Süssmuth bis Alfred Dregger vielen eine Heimat. Mochten sie ansonsten wie die Kesselflicker streiten – in diesem Grundkonsens trafen sich alle wieder.

Den Konsens hat die Geschichte erledigt. Geblieben ist die Sehnsucht nach der Nestwärme der alten politischen Heimat. Aber der Sieg der Freiheit hat seinen Preis, auch für den Sieger. Die CDU kann nicht mehr in drei Worten sagen, wer sie ist.

Die Klage über den Verlust des Konservativen ist eine Chiffre dafür. Sie enthält zugleich eine Behauptung: dass es eine simple Möglichkeit gebe, das Komplizierte wieder einfach zu machen. Zurückbesinnen auf die konservative Wurzel, ein paar Köpfe, die dazu passen, und alles wird gut! Aber Opa Pauls Fernseher kannte drei Programme in Schwarz-Weiß. Über den PC-Monitor seines Enkels flimmern alle Programme der Welt in Farbe. Dahinter führt kein Weg zurück. Auch kein konservativer.

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