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Blut eines Demonstranten in Kairo.

© rtr

Gewalt am Nil: Ägyptens Hoffnung stirbt im Kugelhagel

Es war ein kaltblütiges Massaker an mehr als 70 Demonstranten der Muslimbruderschaft: Vier Wochen nach der „Zweiten Revolution“ erweist sich auch die liberale Klasse in Ägypten als unfähig, das Land zu regieren.

Schwer zu sagen, was verstörender ist: Das kaltblütige Massaker von Polizei und zivilen Scharfschützen an mehr als 70 Demonstranten der Muslimbruderschaft oder die gewunden-abwiegelnden Erklärungen der liberalen politischen Klasse. Der alte und neue Innenminister bestritt sogar rundweg, dass seine Polizei Pistolen und Sturmgewehre eingesetzt hat, obwohl zahlreiche Fotos das Gegenteil belegen.

Keine fünf Tage ist es her, dass der neue starke Mann am Nil, Armeechef Abdul-Fattah el Sissi, von seinem Volk ein Mandat der Straße gegen „Terrorismus und Gewalt“ einforderte. Sissi ist lange genug Ägypter, um zu wissen, was ein solcher Aufruf bei seinen Landsleuten auslöst. Hunderttausende auf dem Tahrir-Platz ließen per Transparenten, Sprechchören und Jubelarien keinen Zweifel daran, wie sie die Botschaft ihres neuen Idols in Uniform verstehen: Alle Muslimbrüder sind Terroristen, bei diesem apokalyptischen Kampf um die Zukunft Ägyptens kann es keine Kompromisse geben. Kaum zehn Stunden später trug die Saat der Volksverhetzung bereits die ersten blutigen Früchte.

Liberale stehen vor dem Offenbarungseid

Vier Wochen ist ihre „Zweite Revolution“ jetzt alt. Und schon steht Ägyptens liberale politische Klasse vor dem Offenbarungseid. Ihre zahllosen Splitterparteien sind auch zweieinhalb Jahre nach dem Sturz Mubaraks kaum mehr als leere Hülsen, die aus einigen Visitenkartenposten bestehen. Keiner will die harte Basisarbeit machen, Gleichgesinnte werben, Mitgliedsbeiträge eintreiben oder gar die Diskussion eines Parteiprogramms organisieren.

Doch im politischen Leben Ägyptens gilt dasselbe wie im Alltagsleben des Landes. Man kann in einer Gesellschaft auf Dauer nicht alles improvisieren und sich dann beschweren, dass man nicht vom Fleck kommt. Man kann keine plurale politische Öffentlichkeit aufbauen, ohne harte beständige Arbeit vor Ort. Und so wundert es nicht, dass sich Teile der Bevölkerung und ihre politische Klasse weitaus lieber bombastischen Deklamationen und dämonisierenden Verschwörungstheorien hingeben – wie sie Armeechef Sissi mit seinem Aufruf gegen den Terror als quasi messianisches Heilsangebot inszeniert hat.

Ägypten erlebt ein neues Machtmonopol

Für einen Moment konnten seine Zujubler die innere Misere ihres Landes vergessen, angefangen von der Unfähigkeit, die Straßen sauber zu halten, die eigene Bevölkerung effizient zu verwalten, die irrwitzige Korruption zu bekämpfen und die eigene Industrieproduktion so diszipliniert zu organisieren, dass sie international wettbewerbsfähig ist.

Und für einen Moment ließ sich übertünchen, dass das liberale Lager Ägyptens politisch und mental genauso wenig wie die vom Militär entthronten Muslimbrüder in der Lage ist, wirkliche Kompromisse zu organisieren, die berechtigten Interessen ihrer Kontrahenten zu respektieren und das Land in eine demokratische Zukunft zu führen. Stattdessen erlebt Ägypten nun ein neues Machtmonopol mit umgekehrten Vorzeichen, in dem die alten Mubarak-Seilschaften wieder ungeniert mitmischen.

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